Quergedanken

Monatskolumne "Quergedanken" 179

Babylons König Hammurapi I. war fast 2000 Jahre vor Christi Geburt einer der ersten, der ein Gesetzeswerk für sein Reich erließ. Gebote, Verbote, Regeln wurden, mitsamt Strafmaß bei Zuwiderhandlung, per Keilschrift in Stein gemeißelt. Etliche der darin enthaltenen Vorschriften erschienen sogar dem lieben Gott so sinnvoll für das Zusammenleben der Menschen, dass er sie nachher dem Moses in den Dekalog diktierte. Aus diesen Zehn Geboten entwickelten sich im Verbund mit Rechtsnormen keltisch-germanischer und griechisch-römischer Ursprünge unsere  Rechtssysteme späterer Epochen. Manche besser, manche schlechter, steht im Zentrum aller, auch der liberalsten, das Prinzip des Verbots.

„Erzähl die Sache mit dem Bier“, verlangt Walter. War, klar: Wenn der Freund etwas über frühe Hochkulturen behalten hat, dann sowas. Also, in Hammurapis steinernem Gesetzbuch gab es bereits ein Reinheitsgebot für Bier. Verstöße dagegen wurden brachial geahndet: Überführte Panscher waren im eigenen Biersud zu ersäufen. Das Reinheitsgebot verbot demnach, die Kunden/Konsumenten zu betrügen. Dieser Grundsatz des Betrugsverbotes, verbunden mit der  Androhung drakonischer Strafen, zieht sich durch sämtliche Reglements für Märkte in Stadt und Dorf von der Vorantike bis ins frühe 19. Jahrhundert.

Verdorbenen Fisch in der unteren Fasshälfte zu verstecken, Brot mit Sägemehl zu strecken, Wein zu verwässern, alte Klepper mit Schuhcreme zu verjüngen, minderwertige Werkzeuge aufzupolieren, Waagegewichte und Münzen zu fälschen… Dies alles und noch viel mehr war strengstens verboten.  Mit diabolischem Grinsen zählt Walter damals übliche Strafen dafür auf: „teeren und federn, auspeitschen, durchprügeln, am Dorfpranger schmachten lassen, einkerkern, das Vermögen der Betrüger einziehen, sie bisweilen gar köpfen oder an der Laterne aufhängen, aber in jedem Fall auf Jahre oder Lebenszeit vom Markt ausschließen.“

Man stelle sich vor, Betrug am Kunden, Nichteinhaltung von Werbeversprechen, Täuschung mittels Aufmotzen von Nahrungsmitteln und Gebrauchsgegenständen durch minderwertige oder schädliche Stoffe würden heutzutage ähnlich bestraft. Es erhöbe sich in Vorstandskreisen von Autoindustrie, Nahrungsmittelindustrie und etlichen anderen Industrien, in den Hochetagen von Handel, Banken und Börsen alsbald großes Weh-Geschrei.
                
Nun haben wir ja keinen Mangel an Gesetzen. Vom Grundgesetz über Strafrecht, Zivilrecht, Steuerrecht … bis hin zur Straßenverkehrsordnung regeln abertausende Vorschriften staatliche Ordnung und Zusammenleben. Vieles ist zu viel, einiges schlecht oder falsch. Wie auch immer: Basis fast aller Vorschriften sind letztlich Verbote. Selbst Rechte haben als Kehrseite das Verbot. Heißt etwa im Falle Grundgesetz: Es ist dem Staat und anderen Machtkräften verboten, die individuellen und kollektiven Grund- und Menschenrechte einzuschränken oder das Gemeinwohl zu schädigen.

„Wozu dein ganzes Salbader?“, fragt Walter. Ach, ich wollte nur mal ein paar Leute erinnern, dass Verbote das Normalste von der Welt sind und, sofern vernünftig, auch nichts Anstößiges. Wenn dieser Tage aber ausgerechnet diejenigen, die seit Jahrzehnten strammem Law-and-Order-Denken anhängen sich am lautesten als libertinäre Anarchisten aufspielen und ausschließlich ökologische wie soziale  Reglementierungsansinnen als „Verbotsfetischismus“ abkanzeln, dann ist das ziemlich scheinheilig.

Monatskolumne "Quergedanken" Nr. 178

Bisweilen werde ich als Technikfeind gescholten. Da liegt ein Missverständnis vor. Auf Waschmaschine und Geschirrspüler, Rasenmäher und Kettensäge, Radio, TV und Computer mag ich nicht mehr verzichten. Denn einige Geräte liefern bessere Ergebnisse als der Handbetrieb. Andere entlasten von stumpfsinnigen Tätigkeiten und schaffen Zeit für Sinnvolleres. Wieder andere versorgen dich mit Information und Unterhaltung oder bieten Kanäle zur Kommunkation.

Walter brummt missmutig: „Machst du jetzt Werbung für Kauf-dich-blöd-Märkte? Wenigstens solltest du auch die Kehrseite der Medaille ansprechen. Computer, Radio, TV spülen ebenso jede Menge Stumpfsinn in Haus und Hirn, können ein Vielfaches der Zeit rauben, die man mittels anderer Maschinen gewinnt.“ Es sei wie bei der Deutschen Bahn, meint der Freund: Was nütze es, wenn modernste ICE-Züge theoretisch eine Stunde weniger von Koblenz nach Berlin brauchen, dann aber zwei Stunden Verspätung haben, man womöglich in irgendeinem zugigen Stadtbahnhof festsitzt, weil es erst am nächsten Tag wieder ein ÖPNV-Verbindung zum Ziel in der Provinz gibt.“

Der berechtigte Einwand erinnert daran, dass neue Technik allein kein Problem löst –  sondern oftmals nur welche zu lösen vorgibt, die es ohne sie gar nicht gegeben hätte. Nehmen wir das Automobil. Inzwischen sind die zuhauf überdimensionierten Verbrennungskraftwerke auf Rädern so zahlreich geworden, dass sie einander im Wege stehen. Folge: Es werden noch mehr Straßen gebaut, diese mit raffinierten Leitsystemen aufgerüstet sowie die Autos selbst mit Techniken versehen, die Stauumgehungswege austüfteln. Ergebnis wiederum davon: Automassen fluten jene Strecken, wo der Verkehr angeblich fließt, bringen ihn rasch auch dort zum Stillstand.

Mit Hinweis auf mein vor einem Jahr erworbenes neues Auto setzt Walter noch einen drauf: „Schon in deiner Kleinkarre haben wir über fünf Dutzend Funktionstasten und ähnlich viele Leuchtanzeigen gefunden – und du weißt bis heute von einem Drittel nicht, wofür sie gut sind.“ Stimmt. Aber schlimmer noch ist: Wo bei den Vorgängermodellen ein paar richtige Druckknöpfe und simple Drehschalter blind bedienbar waren, muss man jetzt hin- und also von der Straße wegschauen, um  Sensortasten und Touchscreen-Funktionen zu nutzen.

Weshalb ich die These von Verkehrswissenschaftlern für unvollständig halte, wonach die Hälfte aller Verkehrsunfälle heute durch Smartphone-Nutzung während des Fahrens verursacht würde. Wahrscheinlich geht ein beträchtlicher Teil der Unfälle auch zurück auf Ablenkungen durch PKW-internes Mäusekino und Hantieren mit vermeintlichen Sicherheits- und Komfortfunktionen. Die Technikreligion zieht daraus allweil die Konsequenz: Noch viel mehr solcher Funktionen einbauen – bis wir am Ende beim automobilen Eisenbahnbetrieb auf der Straße in Form selbstfahrender Fahrzeuge landen.

Ist je jemand gefragt worden, ob er/sie den automatisierten PKW-Verkehr will? Nö, kein Mensch. Industrie und Scheuerpolitik tun einfach so, als sei dies der natürlichste, wunderbarste nächste Technikfortschritt. Dieser Quatsch wird nun scheinwissenschaftlich, medial, werblich ständig wiederholt, bis möglichst viele Leute glauben, das sei ihr eigenes Bedürfnis. So setzt man in Profit verwandelbare Trends. „Alexa, spiel das Lied von den immerwährenden Segnungen des technischen Fortschritts“ – auch wenn es sich lebenspraktisch oft eher um Rückschritt handelt.              

 

Monatskolumne "Quergedanken" Nr. 177

Doch ja, ich mag Traditionen. Ein paar zumindest. Am liebsten jene, die alle Jahre wieder gute Laune, gemütliche Plauderrunden nebst ordentlich Speis‘ und Trank in die Bude bringen. Und bei denen ich sicher sein kann, dass sie auch diesmal so angenehm ablaufen wie in vielen Vorjahren. Weshalb ich nicht begreife, warum manche Leute und Familien stets aufs Neue versuchen, Weihnachten, Ostern, Silvester, Kirmes etc. zu feiern. Denn es gibt da reichlich Zeitgenossen, bei denen alljährlich außer Stress, Muffigkeit, gar Zankerei wenig rumkommt. Soziologisch ist das ein altbekanntes Phänomen: Nirgends wird mehr gestritten als bei familiären Festen und unterm Weihnachtsbaum.
 
Freund Walter teilt meine Vorliebe für Traditionsfeiern nicht. Er behauptet, nur ein einziges Volksfest zu mögen. Das sei Karneval, weil da die Sitten des Turtelns zwischen den Geschlechtern weniger verkrampft ausfielen und er es unbeanstandet genießen dürfe, sich von wuschigen Narrhallesinnen erobern zu lassen. Doch hockt er stets bei uns am Festtagstisch, wann immer Essen, Trinken, Plaudern angesagt sind. Da verdrückt er etwa am Weihnachtsabend vergnügt mein seit ewigen Zeiten stets gleiches Festessen aus ganzem Truthahn mit Knödeln und Rotkraut. Anbei lästert er über die Verwachsungen unseres geschmückten Tannenbaums aus nachbarlichem Halbwildwuchs und amüsiert er sich über meinen Schwips, der während dreier Stunden am Herd infolge besorgten Prüfens der Temperierung von Wein und Weihnachtsbockbier zufällig über mich kommt.

Das sind seit Jahrzehnten feste Rituale, deren beruhigender Reiz von ihrer Absehbarkeit rührt.   Ambitionierte Überraschungen, gar Änderungen des Speiseplans oder Neuerungen etwa durch Weglassen des Tannenbaums – solche Initiativen stießen allemal reihum auf Protest. Was auch für die Geschenke gilt: Das waren und bleiben Kleinigkeiten. Vor Jahren hatte sich Walter mal mokiert: „Wie kannst du als eingefleischter Atheist nur so viel Freude an diesen christlichen Festen haben?“ Damals verpasste ich ihm jene Belehrung, die der Leserschaft dieser Kolumne bekannt ist, weil hier wiederholt vorgetragen: Fast sämtliche christlichen Feste haben Brauchtumsvorläufer in lange vorchristlicher Zeit.

Weihnachten etwa wird seit mindestens 5000 Jahren begangen, weil die „geweihte Nacht“ oder auch die „rauhe Nacht“ eben die längste des Jahres ist, Wintersonnwende. Tannenbaum und Lichterkranz sind ebenso vorchristlichen Ursprungs wie Osterhase und Eier oder der Rutenstreich des Nikolaus. Letzterer wurde ursprünglich zwischen die Beine junger Frauen und Männer geführt – auf dass sie sich eifrig miteinander vergnügen und fruchtbar seien. Selbst für den Laternenzug oder Martinszug lassen sich vorchristliche Ursprünge finden, gleichermaßen für Weihnachtsmärkte oder Fastnacht.

Weshalb es völlig in Ordnung geht, wenn auch Nichtdeutsche, Andersgläubige oder das religionslose gute Drittel der Bevölkerung diese Feste feiern. Denn es sind Traditionen unserer Landschaft – die keltische, germanische, römische, christliche Elemente miteinander verschmolzen haben. Was mich um diese Traditionen derzeit am meisten besorgt macht, ist ihre Totalkommerzialisierung. An die Stelle von Besinnlichkeit und Behaglichkeit tritt immer noch mehr das Geschrei „Kaufen, kaufen, kaufen!“. Walter hält stoisch-trotzig dagegen: „Du machst doch hoffentlich wieder deinen Truthahn?!“ Ei sicher dat.    

 

Quergedanken Nr. 176

„Das gibt Ärger“, meint Walter, als er sieht, worauf mein Text hinausläuft. Wieso? Es geht doch bloß um eine winzige Ergänzung der Straßenverkehrsordnung,  die niemanden einen Penny kosten, aber allen Geld einsparen würde. „Du bist naiv“, entgegnet der Freund. „Das ist doch bei uns fast wie mit den heiligen Kühen in Asien. Die sind Gegenstand religiöser Verehrung und dürfen deshalb alles: Fußgängern und Radlern dumm im Weg rumstehen, auf Straßen die gefährlichsten Manöver vollführen, ihre Ausscheidungen überall ablassen.“

Sei es wie es sei, der Vorschlag liegt auf dem Tisch, und das zum x-ten Mal in fünf Jahrzehnten. Generelles 130er-Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Eines der beliebtesten Argumente dagegen geht heutzutage so: Man könne ohnehin nicht mehr freiweg Gas geben, weil die meisten Strecken bereits tempolimitiert seien oder es wegen Überlastung eh nur noch per Schleichfahrt vorwärts gehe. Zwei Sachen sind mir daran unbegreiflich: Warum dann immer diese Aufregung, sobald jemand die Tempolimit-Idee auch nur andeutet. Und: Wieso baut die Industrie überhaupt noch PKW, die 180, 210 oder mehr km/h bringen – wenn man die doch im gesamten übrigen Europa sowie fast im ganzen Rest der Welt nicht ausfahren darf und in Deutschland angeblich nicht kann?

Walter doziert: „Die Autoindustrie setzt auf die anarchistische Neigung ihrer Klientel. Streng genommen sind Autos mit derartigen Tempofähigkeiten nämlich überall auswärts de facto Anstiftung und Beihilfe zum Gesetzesbruch durch zu schnelles Fahren.“ Das ließe sich gut in der Schweiz beobachten. Dort wären übergroße Hochgeschwindkeitskisten auch recht beliebt,  obwohl deftig bestraft wird, wen die eidgenössische Gendarmerie beim Überschreiten des Tempolimits (120) erwischt. Warum also kaufen relativ viele Schweizer solche Powerkarren? Des Freundes Antwort: „Jede Menge Anarchisten in Switzerland.“

Und wer sich daheim nicht traut, macht eben mal rüber (zu uns). Denn, anders als behauptet, gibt es hier noch Autobahnabschnitte zuhauf, wo man richtig drauftreten darf – und sei es nur, dass man jeweils für ein paar Kilometer den Spritverbrauch ins Zweistellige jazzt. Folge: Egal aus welchem Ausland du nach Deutschland hineinfährt, du meinst aus Entspannungszonen ins Irrenhaus oder ein Kriegsgebiet zu kommen.

Verstanden habe ich die einzig hierzulande so wütende Opposition gegen ein Tempolimit noch nie. Die Vorteile liegen doch auf der Hand. Weshalb sie weltweit wahrgenommen werden, außer halt bei uns: Weniger Spritverbrauch, weniger Abgase, weniger Reifenabrieb, weniger Fahrzeugverschleiß, weniger Lärm, weniger schwere bis tödliche Unfälle, weniger Fahrstress für alle, besserer Verkehrsfluss im Ganzen …  Nennenswerte Zeitersparnis bringt das Bemühen um schnelles Fahren ohnehin nicht. Walter und ich haben es mehrfach getestet: Auf normal belebter A3 erkauft man sich bestenfalls 5 bis 10 % kürzere Fahrzeit mit 20 bis 40 % höherem Spritverbrauch durch nervigen Dauerwechsel zwischen Abbremsen und Drauftreten.

Am Ende bleibt nur ein einziges echtes Argument gegen Tempolimit: Schnellfahren macht vielen Automobilisten Spaß. Ach, es gäbe so manches, das auch mir Spaß machen täte, das aber – womöglich aus gutem Grund – verboten ist: nackt durch die Stadt tanzen; um 4.00 in der Früh auf dem Balkon Beethoven-Sinfonien voll aufdrehen; zweimal die Woche großes Lagerfeuer auf der Wohnstraße abbrennen; mit Pfeil und Bogen im Westerwald auf die Jagd gehen; lauten Dauertelefonierern in Eisenbahn oder Restaurant die Gerätchen zerdeppern …         

 

Quergedanken Nr. 175

Freund Walter hat ein neues Hobby: Schießen. Genauer: Er schießt Pfeile und schleudert Steine in die Gegend. Noch genauer: Er nimmt die Wolken unter Beschuss. Dabei gibt er jedoch als nur spärlich muskelbepackter Achilles ein recht lachhaftes Bild ab. Eigentlich wäre ihm auch ein Kampftraining lieber, bei dem er mit doppelläufiger Schrotflinte gegen Tontauben antritt. Doch mangels diesbezüglicher Gelegenheit ist er eben bei Flitzebogen und Zwille, also den Waffen seiner Kindheit, gelandet.

Was er da treibe, frage ich. Antwort: „Luftabwehr“. Reaktion meinerseits: ??? Erklärung seinerseits: „Ei, man kann es doch schon im Fernsehen erkennen. Ob Feldberg oder Rügen, Moseltal oder Alpen, Kalahari oder Amazonas – du kriegst neuerdings alles aus der Vogelperspektive gezeigt. Selbst die Lokalzeitungen sind voller Luftaufnahmen: Lorely von oben, Festung Ehrenbreitstein von oben, die Mülheim-Kärlicher Turmtrümmer von oben, honorige Pappnasenversammlungen von oben.... Und woher kommt das? Von diesem neumodischen Brummgedöhns im himmlischen Zwischendeck – von den Drohnen.“

Also folgt Walter nun der Devise „wehret den Anfängen“ und wappnet sich mit Fliegerabwehr von eigener Hand gegen demnächst massenhaftes Eindringen von Drohnen in den erdnahen Luftraum über seinem Hochmoselgärtchen. Natürlich hat der Freund nicht mehr alle Tassen im Schrank, zumal es seine Pfeile und Steine keine 25 Meter in die Höhe schaffen. „Egal“, zischt er, „man muss was tun, sonst geht‘s hier bald zu wie im Science-Fiction-Film ‚Das fünfte Element‘“.

Damit spielt er auf Bruce Willis an, der im x-ten Stockwerk seines futuristischen Wohnsilos von einem fliegenden China-Imbiss versorgt wird, während drumherum der Teufel los ist: Schnellzüge donnern draußen senkrecht die Wände rauf und runter; nachher muss Bruce sein Schwebetaxi in einen Verkehrstrubel einfädeln, der über fünf Dutzend horizontale und ebenso viele vertikale Freiluft-Fahrebenen flutet. Er muss bei jeder Kreuzung nicht nur rechts, links und geradeaus gucken, sondern auch nach oben und unten – was ihn nicht davor bewahrt, dass ihm die halbnackte Milla Jovovich durchs Taxidach auf den Rücksitz kracht.

„Willst du so etwa leben?“, fragt Walter. „Die hohen Himmelsgefilde mit Fernfliegern und Raumschiffen dicht bestückt, am Boden die altbekannte Chaos-Überfüllung durch PKW und LKW, dann obendrein der Zwischenraum über den Köpfen mit dreidimensional herumschwirrendem Kroppzeug vollgestopft.“ Ich sag mal so: Die Milla auf dem Rücksitz tät‘ ich noch in Kauf nehmen, auf alles andere aber dankend verzichten. Ein paar einzelne fliegende Fernsehkameras oder Pressefotoapparate wären ja noch zu verkraften. Aber die reale Drohnerei will ja mehr: Fliegende Paketdienste und Taxis, frei schwebender ÖPNV und sowieso die „Freiheit“ aller Bürger, jeden und alles mit privaten Kleindrohnen aus der Luft betrachten zu können.

Reicht es nicht, dass erst ein Vulkan ausbrechen muss, um am hohen Himmel mal ein paar Stunden Ruhe einkehren zu lassen? Frisst uns die Verkehrswelt am Boden nicht schon genügend Natur und Lebensqualität weg? Müssen wir nun auch noch das Zwischendeck unter den Wolken in eine hektisch lärmende Sphäre verwandeln? Insofern liegt Freund Walter gar nicht mal so falsch, jedenfalls gedanklich. Fast möchte man bedauern, dass er mit Flitzebogen und Zwille gewiss nie so einen Kreiselbrummer vom Firmament holen wird. 

Quergedanken Nr. 174

Doch ja, ich mag Leute mit Spleen, Marotte, Schrulle, die nicht dem entsprechen, was man gemeinhin für normal hält. Zumindest sofern sie mir damit nicht missionarisch auf den Keks gehen oder Mitmenschen und Allgemeinheit Schaden zufügen. Weshalb für mich der sympathischste Zug an Horst Seehofer seine Vorliebe für das Spielen mit der Modelleisenbahn ist. Das stört niemanden, tut keinem weh – hat aber was, weil heute so selten geworden. Ein ähnlicher Fall war meine verstorbene Nachbarin. Die alte Dame kannte noch Anfang des 21. Jahrhunderts kein größeres Glück als die Gartenzwerge rund um ihr Haus. Ich fand den Kitschkrempel furchtbar. Aber wenn die Frau mir strahlend einen Neuerwerb präsentierte oder zum x-ten Mal die Herkunftsgeschichte eines Zwergveteranen erzählte, hatte ich richtig Freude an ihrer Freude. Dass es ihr obendrein bei diesem Thema völlig egal war, ob die übrige Welt sie für bekloppt hält, hat mir imponiert.

Beim Besuch der großen Stadt sehe ich seit Jahren immer wieder diesen Mann, der stets einen Hut mit sich führt, den aber offenkundig nie aufsetzt. Freund Walter kennt eine junge Frau, die nach dem Essen im Wirtshaus allemal einen Schnaps bestellt und den auch bezahlt – ihn aber nie trinkt, sondern nur daran schnuppert. Eine eigenartige Schrulle, die ich wohl nie begreifen werde, aber allweil mit Schmunzeln verfolge: Im Freundes- und Kollegenkreis gibt es Liebhaber und fulminante Kenner hier der klassischen Musik, da des anspruchsvollen Jazz oder Rock. Zugleich jedoch ziehen einige von ihnen sich völlig schmerzfrei mit größtem Vergnügen Schlagerparaden und vor allem jedes Jahr den Eurovision Song Contest rein.

Engagierte bis schier besessene Sammler stehen bei mir in hohem Ansehen. Gleichgültig, was sie sammeln: ob Sprudel- oder Schnapsflaschen, Salzstreuer oder Babyschnuller aus sämtlichen Zeitaltern und Ländern; ob Bierdeckel, Korken, Wäsche, Spültücher, Plastiktüten oder Klopapierpackungen aus jedweder Kultur. „Für so einen unnützen Stuss den Großteil der Freizeit drangeben: Die sind doch nicht normal“, hört man manchen Kopfschüttler grummeln. Aber ja, das ist doch gerade das Grandiose: unnütz und nicht normal, dennoch eine große Passion. Ein alter Bekannter hat dagegen nur einen kleinen, aber nicht minder faszinierenden Spleen: Von Hause Elektroingenieur hat er sein Wohndomizil völlig übertechnisiert, aus seinen Autos jedoch baut er stets sämtliche Elektronik aus, die er rauskriegt, ohne dass die Karre den Dienst verweigert. Bekloppt? Gewiss. Schön bekloppt.

Schade eigentlich, dass ich selbst so gar keine Marotten habe. Da brüllt Freund Walter vor Lachen: „Du und keine Marotten? Alle Welt lässt beim Autofahren das Radio laufen; du weißt nichtmal, wo man deines einschaltet. Die meisten Leute freuen sich, wenn sie vom Einkaufsbummel ein paar Neuerwerbungen mitbringen; du hingegen jubilierst, wenn du nichts gekauft hast. Die Menschheit stattet sich rund um den Globus mit Smartphones aus; du aber willst partout keines haben. Deine Kollegen im Vortragsgewerbe benutzen alle längst Powerpoint-Präsentationen; du jedoch bestehst für deine Vorträge auf die Alleinstellung des gesprochenen Wortes. Du hängst an papierenen Büchern, Zeitungen und antiquierten Ausdrücken. Mir ein Rätsel, was die jungen Leute, mit denen du alle Nase zusammenhockst, an so einem Dinosaurier finden.“ Ähm – die mögen das, und ich mag es auch.

Quergedanken Nr. 173

Allmählich bin ich es richtig leid. Je mehr Autos unterwegs sind, umso häufiger muss ich beim Waldspaziergang in den Straßengraben springen. Denn leider gehören zu meiner Hausrunde im Westerwald 300 Meter Landstraße. Alle Nase lang fahren Autos dort so dicht an mir vorbei, dass von „vorbei“ nur die Rede sein kann, wenn ich ins Gestrüpp hüpfe. Leider nimmt auch der Verkehr noch immer zu, obwohl auf 56 Millionen Führerscheininhaber im Land bereits 48 Millionen Autos kommen. Vor 25 Jahren dachte ich, die PKW-Vermehrung würde ein Ende haben, sobald es pro zwei Bürger ein Fahrzeug gibt. Das war ein Irrtum. Es wird wohl keine Ruhe einkehren bis rechnerisch zu jedem Erwachsenen ein Automobil gehört.

Zu Abermillionen PKW gesellen sich drei Millionen hierzulande zugelassene Brummis, die zusammen mit fünf Millionen LKW aus aller Herren Länder Autobahnen verstopfen und an Rastplätzen zum Stellungskrieg auffahren. Weitere 50 % LKW-Zuwachs sind bis 2030 prognostiziert. Wo die fahren sollen, geschweige pausieren, weiß kein Mensch. Doch erfahrungsgemäß folgt dem Wachstumsglück ja bald „verkehrspolitischer Pragmatismus“: Noch mehr Fläche asphaltieren – weg mit Wald und Wiesen.

Zurück zu meinen Sprüngen. Den Städtern zur Kenntnis: Es gibt an besagtem Straßenabschnitt – wie an tausenden Kilometern Landstraße deutschlandweit – weder Geh- noch Radweg. Es gilt dort wie schon zu Ochsenfuhrwerks Zeiten: Das Asphaltband gehört gleichberechtigt allen Verkehrsteilnehmern. Und folgte man der Straßenverkehrsordnung, sollte jeder sein Nutzungsrecht auch angemessen sowie ohne Gefahr für Leib und Leben wahrnehmen können – ob PKW, LKW, ob schwach oder stark motorisierte bzw. mit Muskelkraft betriebene Zweiräder, ob Traktorenfuhrwerk, Pferdegespann oder eben Fußgänger.

Bedauerlich indes: Viele Autofahrer/innen sind offenbar der Ansicht, das Primär-Nutzungsrecht für Landstraßen liege beim Automobil, und das habe ein zwingendes Anrecht auf freie Fahrt. Alle sonstigen Straßennutzer hätten demnach den Autos gefälligst (aus)zu weichen und sich jeweils flott dorthin zu begeben, wo der Pfeffer wächst – also in den Straßengraben zu Brennesseln, Dornenhecken und aus Autofenstern geschmissenem Müll.

„Ihr müsst dem Feind immer ins Auge schauen“, hatte man uns in Kindheitstagen daheim eingebläut. Der Feind, das waren die Autos. Ihnen sollten wir wachsamen Auges stets auf der linken Straßenseite entgegengehen, nie den Rücken zuwenden. Das galt für den halbstündigen Fußweg zur und von der Schule, galt für die Einkaufswege durch den Ort oder hin zu den wilden Spielplätzen. Seit jener Zeit gehe ich auf Landstraßen ohne Trottoir stets ganz links, um zu sehen, was da kommt: Womöglich wieder so ein Idiot, dem meine Unversehrtheit und die Straßenverkehrsordnung scheißegal sind, der partout nicht akzeptieren will, dass bei solchen Straßen Fahrbahnen eben auch Gehbahnen sind.

Werte Automobilisten, die Gesetzeslage ist klar. Wenn auf Landstraßen Fußgänger oder andere langsame Verkehrsteilnehmer am Straßenrand auftauchen und ihr sie wegen Gegenverkehrs nicht in weitem Bogen umfahren könnt: DANN habt ihr zu schleichen oder anzuhalten bis eine gefahrlose Umfahrung möglich ist. Mich, den Fußgänger, zum Rettungssprung in den Graben zu zwingen, ist eine Drecksauerei und kriminell obendrein. Es können die Autos nicht das Maß aller Dinge sein – egal, ob mit Benzin oder elektrisch betrieben.

Quergedanken Nr. 172

Wir nennen uns Homo sapiens, „vernünftiger Mensch“. Eingeleuchtet hat mir das nie. Denn angesichts der Zivilisationsgeschichte bleibt eigentlich nur der Befund: Seit der Mensch sesshaft geworden ist und in hierarchischen Gesellschaften lebt, wird er hauptsächlich von Unvernunft getrieben. Der Oberen liebste Steckenpferde waren immer Ausweitung der eigenen Herrschaftssphäre, Auspressen der Unteren und dass diese einander totschlagen in endloser Abfolge von Kriegen. Ist das etwa vernünftig?

Ist es nicht. Doch wir Deppen haben uns über ein paar tausend Jahre so daran gewöhnt, dass wir diesen Unfug für den naturgesetzlichen Gang der Dinge halten. Weil man aber auf sein Herkommen auch ein bisschen stolz sein will, bilden wir uns entsetzlich viel auf den menschlichen Erfindungsgeist ein. Obwohl der eigentlich nur die alte Gewohnheit in verändertem Anstrich fortsetzt. Wir sind stolz darauf, aus den Jagdwerkzeugen der steinzeitlichen Vorfahren Kriegswaffen gemacht und sie zu Weltzerstörungmaschinen fortentwickelt zu haben. Oder darauf, von einer Generation zur nächsten mehr zu werden, mehr und ständig größere Dinge zu schaffen, mehr von allem zu verbrauchen.

Gut, wir fielen wiederholt auch auf die Schnauze: Pharaonenwelt – untergegangen; griechische Hochkultur – untergegangen; Imperium Romanum – untergegangen; Maya-, Azteken-, Khmer-Königtümer – untergegangen; chinesisches Kaiserreich – untergangen; deutsches Kaiserreich – untergegangen; Drittes Reich – untergegangen; britisches Weltreich – untergegangen; US-Vorherrschaft in Südostasien – untergegangen; Sowjetunion – untergegangen; Menschheit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – um ein Haar untergangen. Was hat der Sapiens-Mensch aus all dem gelernt? Freund Walter bringt es auf die knackige Formel: „Nix!“

Ergo: Wir sind keine Vernunftwesen, sondern im Grunde primitive Gewohnheitstiere. Mehr, größer, schneller: Das vor allem treibt die planetare Gemeinschaft des Homo sapiens an. So war‘s immer, so sind wir‘s gewöhnt, so soll es bleiben. Das neue Haus größer als das alte; die Autos von einer Anschaffung  zur nächsten stärker, schneller, fetter; Vorratskammern und Mülleimer von Jahr zu Jahr praller; die Industrieproduktion von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verdoppelt; das Konsumklima, für welch nutzlosen Krempel auch immer, von Generation zu Generation auf neue Höhen getrieben…

Das sind wir seit Kindertagen gewohnt, das ist fein. Egal, ob es ein paar Milliarden Mitmenschen dennoch an Nötigem oder am Nötigsten mangelt – Hauptsache die Weltwirtschaft wächst (auf eine vernünftigere Idee ist sie bislang ja nicht gekommen). Und Hauptsache, man kann mit seinem 90-Kilo-Körper in Tonnen schweren Kraftwerken auf vier Rädern rumrasen und jeden Tag drei Schnitzel von gequälten Schweinen verdrücken (das macht schließlich Freiheit aus).  
 
„Nu geh‘ du mal in Urlaub, den Schluss schreibe ich“, bietet Walter seine Freundschaftsdienste an. Heraus kommt dies: „Plötzlich hat es RUMMS gemacht. Mutter Natur streikt. Sie will sich nicht länger im Dienste unserer blödsinnigen Gewohnheiten aussaugen, verhackstücken, verseuchen, vergiften, vergewaltigen lassen. Und sollte dem belämmerten Klugscheißer-Homo doch ein winziger Kern von Lernfähigkeit innewohnen, er könnte ihre per Klimawandel und Artensterben übermittelte Botschaft verstehen, die da sagt: Weniger ist mehr. Gewöhnt euch dran – oder geht unter.“

 

Kolumne "Quergedanken" Nr. 171

Aha, die Nationalisten kriegen Prügel“, freut sich Walter, als er die Überschrift sieht. Ich winke ab: „Nö. Das tät zwar aktuell passen, aber ich hab‘s diesmal mit der Zukunft. Und da spielt die Bagage der Umvolkungs-Krakeeler keine Rolle.“ Jetzt glotzt der Freund, japst nur noch „häh?“. Etlichen Lesern*innen mag es ähnlich ergehen angesichts der Renaissance, die die Nationalreaktionäre in vielen Ländern erleben. Weshalb kurz erklärt sei: Ich bin fest überzeugt, dass das nationalistische Feuerwerk eine vorübergehende Erscheinung ist, ein letztes Aufbäumen gegen die unausweichliche Internationalisierung und Multikulturalisierung aller Gesellschaften auf Erden.

Spätestens beim Blick auf die drei Alterskohorten, die seit der Jahrtausendwende zur Welt gekommen sind, sollte doch klar sein: Wenn diese jungen Leute bald die federführende Erwachsenengeneration sind, haben sie ganz andere Probleme, als sich mit dann vollends weltfremden Phänomenen wie Nationalismus und Rassismus abzuplagen. Diese Digital Natives sind doch zum großen Teil heute schon quasi Weltbürger. Ihre Musik, ihre Moden, ihre Lektüre, ihre Kinofilme und TV-Serien, ihre Verhaltensweisen: alles global. Ihre Speisen und Getränke selbstverständlich so international wie ihre Netzkommunikation, ihre Bekanntenkreise, ihr Studium oder Teile ihrer Berufsausbildung. Selbst ihre deutschsprachigen Spaßmacher, heute Comediens genannt, stammen von allen Völkerschaften dieses Planeten ab.

Es ist doch schon jetzt so, dass jedes industrielle Produkt von der Suppenwürze bis zum Automobil Ergebnis weltweiter Produktionsketten ist. Der hiesige Supermarkt und das VW-Autohaus sind damit Tempel des Multikulturellen. Und würde man alle Menschen mit Migrationshintergrund der ersten bis dritten Generation aus dem Land jagen – es sähe übel aus für Wirtschaft und Wirtshäuser, erst recht für Gesundheitswesen und Altenversorgung. Kurzum: Die Reaktionäre könnten auf ihre Plakate statt „Ausländer raus!“ auch schreiben „Deutschland zurück in die Steinzeit!“. Die Geschichte zeigt Sinn für Humor: Heute sind es deutsche Nationalisten, die de facto den Morgenthau-Plan im Banner führen. (Morgenthau? Wer‘s nicht weiß: nachschlagen.)

Herrjeh, jetzt habe ich mich verquasselt. Wollte doch ich über KI schreiben. Über Künstliche Intelligenz, diese allüberall als DIE Zukunftstechnik behandelte Computerentwicklung. Näher betrachtet, zeigt sich, dass KI herzlich wenig gemein hat mit dem, was wir unter Intelligenz verstehen. KIs sind in Wahrheit strohdumm. Das kann man etwa an der Google-Suchmaschine sehen. Die ist viel zu doof, um eine Frage zu verstehen. Sie nimmt nur Schlagworte aus dem Fragesatz auf, durchsucht eifrig das WWW danach. Angezeigt werden dir tausende sinnlose Treffer, unter denen – vielleicht – ein paar sind, mit denen du was anfangen kannst. Begreifen, Einsicht, gar intuitives Verständnis für das Anliegen des Suchenden? Keine Spur.

KIs haben nur ein einziges Talent: Sie sind Weltmeister im Suchen, Sammeln, Abgleichen von Daten. Was sie mit den Datenbergen anfangen sollen, dafür müssen ihnen Menschen jeden Furz einprogrammieren. Beides zusammen macht KIs aber auch brandgefährlich, insofern diese Technik Orwells Totalüberwachung durch Big Brother wie Spielzeug aussehen lässt. Mit Intelligenz jedoch hat das nicht die Bohne zu tun. Wären unsere Kleinkinder so blöd wie KIs, es wäre nie eines erwachsen geworden.

Quergedanken Nr. 170

Am 26. Mai steht uns ja ein kollektiver Sonntagsausflug ins Haus. Zwar wird in den Einkehrlokalen das Angebot etwas spartanisch ausfallen – es stehen nur Papier und Schreibstift auf der Karte. Doch bleibt den Rheinland-Pfälzern als Trost: Uns wird, im Verhältnis zu manch anderem Bundesland, die doppelte Menge Papier serviert. Kurzum: Der 26. Mai ist ein Wahl-Sonntag; hierzulande sogar ein Doppelwahl-Sonntag. Ergo: Trotz mäßigen Angebots in den Lokalen ist ein jeder aufgerufen, sie heimzusuchen und seine Kreuzchen zu machen. Also rafft euch auf, ihr Frauenzimmer und Mannen! Wählt das europäische Parlament, wählt auch die Parlamente eurer Städte und Dörfer – aber wählt kein braunes Gesocks!

Freund Walters Begeisterung ob der Wählerei hält sich mal wieder in Grenzen. Die werte Leserschaft mag sich erinnern: Bei der Bundestagswahl hatte ich ihn nur mit Mühe überzeugen können, seine Jahrzehnte währende Wahlverweigerung aufzugeben. Mein schließlich durchschlagendes Argument war seinerzeit: Alle Stimmen, die Leute wie du nicht abgeben, kommen am Ende den nationalistischen Reaktionären zugute. Das saß. Walter ließ sich erweichen: „OK, ich geh kreuzeln. Auch wenn ich mir nachher gewiss in den Hintern beiße. Weil doch wieder bloß eine Politik herauskommt, die nach noch mehr Wirtschaftswachstums schreit sowie den Bückling vor Finanz- und Industriekapital macht.“ So sprach der Freund. Auf dem Weg ins Wahllokal brummelte er damals: „Wenn aber die Braunen drankommen, dann dürfen wir dagegen nichtmal mehr demonstrieren.“

Diesmal lässt Walter sich relativ schnell zum Wählen bewegen. Allerdings schlägt er mit spitzbübischem Grinsen einen Handel vor. Er gehe mit mir am 26. Mai zur Wahl, dafür solle ich ihn zuvor am 18. Mai zu einer Koblenzer Demonstration begleiten, die unter dem Motto steht „Zukunft! Für unser Klima, für Demokratie, für soziale Gerechtigkeit! Gegen das Nichtstun der Politik!“ Worauf sich ein, sagen wir mal: lebhafter Disput entwickelte über den Zusammenhang zwischen wählen und demonstrieren, der sich rasch um die Wechselwirkung zwischen regieren und demonstrieren drehte.

Es sei kein Hehl daraus gemacht, dass wir beide das couragierte Aufbegehren unserer Jüngsten im Zuge der Bewegung Fridays for Fu ture mit großer Sympathie begleiten. Ich mehr aus Freude, dass eine bereits an die Konsumreligion verloren geglaubte Generation plötzlich hellwach und renitent die Straße betritt. Walter eher aus Gefallen daran, wie diese jungen Leute Leben in die verpennte Politbude bringen und das Establishment reihum in Panik versetzen – mit ihrem unnachgiebigen Verlangen, die Politik müsse endlich in die Tat umsetzen, was sie im Pariser Klimaabkommen versprochen habe.

„Siehst du“, meint Walter, „das kann vielleicht funktionieren: Einigermaßen vernünftig wählen und zugleich von unten Druck machen. Auf dass die gewählten Herrschaften nachher nicht wieder einschlafen oder nach oben katzbuckeln, sondern stets mit der Nase auf das gestaucht werden, was für die nahe und fernere Zukunft wirklich wichtig ist.“ Der Handel gilt: Wir gehen beide wählen und gehen beide zur Demo. Zugegeben, von letzterem war ich nicht schwer zu überzeugen, kommt doch im Demo-Motto zusammen, was zusammen gehört – die Forderung nach einer ökologischen Wende und diejenige nach einer sozialen Wende. Also Leute, der Mai ist gekommen: Arsch huh, Zäng ussenander!

Quergedanken Nr. 168

ape. Doch, ja: Ich war mal begeisterter Fasenachter, Karnevalist, Jeck, oder wie ihr die Dollerei-Aktivisten nennen mögt. Ist lange her und hatte mit einem richtig ernsten Kinderwunsch zu tun. Endlich durfte ich mal äußerlich der werden, der ich in meiner Fantasie immer war: ein Indianer. Mit Federschmuck, Fransenanzug und Kriegsbemalung konnte ich für ein paar Tage der Umgebungsbagage die stolze Verachtung des Apachen entgegen schleudern; konnte dem knurzigen Nachbarn die Flinte unter die Nase halten und ihn mit einem „weißer Mann ist böser Mann“ verknurren.

Vielleicht rührt von diesem kindlichen Ernst für die Verkleidung jene giftige Opposition gegen alles Karnevalsgehabe, die mich nachher im Jugendalter befiel. Obwohl man als Pubertierender ja die Augen nicht lassen konnte von den gleichaltrigen oder älteren kurzberockten Funkenmariechen, galt einem doch das ganze Garde- und Uniformgedöhns als Ausbund von Militarismus. Hinzu kam, dass seinerzeit die Sitzungen der Saalfastnacht dem Jüngling vorkamen wie Standesversammlungen der klein- und großbürgerlichen Hautevolee. Und lange dominierten ja auch dementsprechende Büttenreden die Szenerie. Protokoller, Till, dä Schutzmann, Rumpelstielzchen und Co. – es war für unsereinen ein Graus, wenn die Honoratiorenstammtischler in bemühten Reimen philosophierten, politisierten, gar den Dadaisten gaben.

Erst sehr viel später erklärte mir ein Professor für Volkskunde, was es mit der Jeckerei ureigentlich auf sich hat. Schon vor 5000 Jahren wurde etwa in Babylon Fastnacht gefeiert. Und zwar als ausgelassenes Fest der Gleichheit, wie eine alte Inschrift bezeugt: Für die betreffenden sieben Tage „sind Mächtige und Niedere gleich“. Der hohe Amtsrat geht zum Schwof in die Bauernkneipe, die Bauern bringen mal Schwung in den Ratskeller. Und vor allem auf den Straßen vermischen sich Klassen, Geschlechter, Generationen zum lustvoll-bukolischen Treiben. Aus jener fernen Epoche hat sich einiges erhalten, trotz mehrfachen Verbots der Fastnacht in Mittelalter und Neuzeit.

Im 19. Jahrhundert kam am Rhein die närrische Uniformhuberei auf, gedacht als Vorhohnepipelung mal der französischen Besatzer, mal der Preußen – in der Straßenfastnacht meist jedwede Obrigkeit deftig verarschend. Sobald ich diesen ursprünglich renitenten Charakter des rheinischen Mummenschanzes begriff, wandelte sich meine Einstellung zur Fastnacht beträchtlich. Was allerdings nichts änderte an der bald leidigen Erfahrung, dass viele Karnevalisten von dieser Tradition gar nichts wissen oder anzügliche Witzchen, schunkelfreudige Liedchen und den besoffenen Kopp schon für Renitenz halten.

Übrigens: Wegen dunnemals überbordender Feierlaune bis hin zu „Massenrüpelei und Sittenlosigkeit“ bei der volkstümlich-anarchischen Straßenfastnacht gründete in Köln das Bürgertum 1823 ein „Festordnendes Comite“. Andere Städte zogen nach mit Bemühungen, die Fastnacht in geordnete Bahnen zu zwingen. Zwei Mittel wurden vor allem eingesetzt: die Erfindung der Saalsitzungen mit ihrer ritualisierten Vergnügungsorganisation sowie die Einführung reglementierter Offizialumzüge. Macht das noch Spaß? Die einen sagen so, die andern so. Freund Walter jedenfalls wird wieder eintauchen in lüstliche Narrenanarchie. Und ich? Ich werde mir via TV manche Sitzung reinziehen, dem Bürgertum aufs Maul schauen, mich oft grün und blau ärgern, gelegentlich aber auch Schreien vor Vergnügen.   

(Erstveröffentlichung außerhalb dieser website 4./5. Woche im Januar 2019)

Quergedanken Nr. 167

ape. Eigentlich halte ich diese Sache mit den guten Vorsätzen zum neuen Jahr für Humbug. „‘s kütt, wie ‚s kütt“, heißt es nach weiser Rheinländer-Art und meint: „Do steckste nit drin“ oder „kahnste nix maache“. Dies kaum hingeschrieben, fährt Freund Walter mir maulend in die Parade: „Quatsch! Das ist nicht Weisheit, sondern kölsche Thresen-Philosophie; von den Suffniks entwickelt, um weiter Kranz für Kranz ihres Labbergetränks ohne schlechtes Gewissen in sich hinein schütten zu können.“ Starker Tobak, Monseigneur; ausgerechnet von dir, der gerne selbst die Tassen hebt und der Devise folgt: Ich will mich nicht aufregen über Dinge, die sich nicht ändern lassen.

So sprach ich – weshalb es im alten Jahr noch einen heftigen Disput gab. Denn Walter war gehörig erbost: „Tust du nur so, um mich zu ärgern, oder bist du so meschugge?“ Es folgte eine Donnerpredigt, bei der selbst Thomas Müntzer erbleicht wäre: Über genaues Lesen und Zuhören, das jetzt offenkundig auch bei mir verkomme, seit ich bei diesem Facebook mittue. „Was hatte ich gesagt?!“, giftete er. „Der genaue Wortlaut war: Ich will mich nicht aufregen über Dinge, die sich nicht ändern lassen. Und was, bitteschön, lässt sich nicht ändern?“ Der Freund gab selbst die Antwort, und die ließ die Scheiben klirren: „Nur die Naturgesetze sind unveränderlich; alles vom Menschen Gemachte aber ist veränderbar; wir müssen nur wollen!!!“

Weil es ein Erlebnis besonderer Art ist, wenn Walter aus der Haut fährt, legte ich – selbstredend in aller Unschuld – noch eine Schippe drauf: Dann lass uns für 2019 all unserer Laster abschwören. Keine Ess- und Trinkgelage mehr, nix Tobacco, kein verträumtes Stieren in die Landschaft oder versonnenes Schauen nach hübschen Frauen, Schluss mit dem Luxus der Smartphone-Verweigerung, den Miniaufständen in Supermärkten, den Spitzen wider Hautevollee und Nationalismuskäse. Und Du, mein Lieber, solltest endlich heiraten – unter der Haube hätte es ein Ende mit der freigeistigen Liederlichkeit. Kurzum: Lass uns anständige deutsche Bürger werden.

Schweigen. Langes Schweigen. Sehr langes Schweigen. Der Freund schaute derart seltsam, dass ich denn doch beunruhigt war. So stellt man sich den Blick eines Großinquisitors vor, der sein Urteil „die Hex‘ muss brennen“ gerade fällt. Schließlich zischte er ganz leise: „DAS widerrufst du augenblicklich – oder wir sind geschiedene Leut‘.“ Was soll ich sagen? Mein Widerruf aller potenziellen Abschwüre und braven Vorsätze folgte unverzüglich. Der Scherz war schlecht gesetzt;  es dauerte ein paar Gläser bis die Luft wieder gereinigt war.

Wir einigten uns dann doch auf einen gemeinsamen guten Vorsatz für 2019: Gas wegnehmen. Will sagen: Noch weiter zurücktreten vom Irrsinn des Immerschneller und Immermehr. Denn wir hatten 2018 wieder erlebt, dass ringsum Kollegen, Bekannte, Freunde umfielen wie die Fliegen wegen Rückens, Herzkasper, Nervenflattern oder Seelenbruchs. Mag sein, der Homo sapiens und dessen nach wie vor steinzeitliche Entwicklungsstufe bei Körper und Hirn passen einfach nicht zu den multiplen Hochgeschwindigkeits-Anforderungen des Turbokapitalismus. Die Zeitgenossen verblöden in den unendlichen Fluten des Info-Inputs und zerbrechen unter der Peitsche des Allzeit-Funktionieren-Sollens. Diesen Zirkus machen wir, so gut es irgend geht, nicht mit. Basta. Nachtrag von Walter: „Auch dieser Zirkus wäre veränderbar; wenn wir wollen, sogar im Großenganzen.“

Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website 51./52. Woche im Dezember 2018

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