Man sollte öfter mal bekloppt sein
Quergedanken Nr. 174
Doch ja, ich mag Leute mit Spleen, Marotte, Schrulle, die nicht dem entsprechen, was man gemeinhin für normal hält. Zumindest sofern sie mir damit nicht missionarisch auf den Keks gehen oder Mitmenschen und Allgemeinheit Schaden zufügen. Weshalb für mich der sympathischste Zug an Horst Seehofer seine Vorliebe für das Spielen mit der Modelleisenbahn ist. Das stört niemanden, tut keinem weh – hat aber was, weil heute so selten geworden. Ein ähnlicher Fall war meine verstorbene Nachbarin. Die alte Dame kannte noch Anfang des 21. Jahrhunderts kein größeres Glück als die Gartenzwerge rund um ihr Haus. Ich fand den Kitschkrempel furchtbar. Aber wenn die Frau mir strahlend einen Neuerwerb präsentierte oder zum x-ten Mal die Herkunftsgeschichte eines Zwergveteranen erzählte, hatte ich richtig Freude an ihrer Freude. Dass es ihr obendrein bei diesem Thema völlig egal war, ob die übrige Welt sie für bekloppt hält, hat mir imponiert.
Beim Besuch der großen Stadt sehe ich seit Jahren immer wieder diesen Mann, der stets einen Hut mit sich führt, den aber offenkundig nie aufsetzt. Freund Walter kennt eine junge Frau, die nach dem Essen im Wirtshaus allemal einen Schnaps bestellt und den auch bezahlt – ihn aber nie trinkt, sondern nur daran schnuppert. Eine eigenartige Schrulle, die ich wohl nie begreifen werde, aber allweil mit Schmunzeln verfolge: Im Freundes- und Kollegenkreis gibt es Liebhaber und fulminante Kenner hier der klassischen Musik, da des anspruchsvollen Jazz oder Rock. Zugleich jedoch ziehen einige von ihnen sich völlig schmerzfrei mit größtem Vergnügen Schlagerparaden und vor allem jedes Jahr den Eurovision Song Contest rein.
Engagierte bis schier besessene Sammler stehen bei mir in hohem Ansehen. Gleichgültig, was sie sammeln: ob Sprudel- oder Schnapsflaschen, Salzstreuer oder Babyschnuller aus sämtlichen Zeitaltern und Ländern; ob Bierdeckel, Korken, Wäsche, Spültücher, Plastiktüten oder Klopapierpackungen aus jedweder Kultur. „Für so einen unnützen Stuss den Großteil der Freizeit drangeben: Die sind doch nicht normal“, hört man manchen Kopfschüttler grummeln. Aber ja, das ist doch gerade das Grandiose: unnütz und nicht normal, dennoch eine große Passion. Ein alter Bekannter hat dagegen nur einen kleinen, aber nicht minder faszinierenden Spleen: Von Hause Elektroingenieur hat er sein Wohndomizil völlig übertechnisiert, aus seinen Autos jedoch baut er stets sämtliche Elektronik aus, die er rauskriegt, ohne dass die Karre den Dienst verweigert. Bekloppt? Gewiss. Schön bekloppt.
Schade eigentlich, dass ich selbst so gar keine Marotten habe. Da brüllt Freund Walter vor Lachen: „Du und keine Marotten? Alle Welt lässt beim Autofahren das Radio laufen; du weißt nichtmal, wo man deines einschaltet. Die meisten Leute freuen sich, wenn sie vom Einkaufsbummel ein paar Neuerwerbungen mitbringen; du hingegen jubilierst, wenn du nichts gekauft hast. Die Menschheit stattet sich rund um den Globus mit Smartphones aus; du aber willst partout keines haben. Deine Kollegen im Vortragsgewerbe benutzen alle längst Powerpoint-Präsentationen; du jedoch bestehst für deine Vorträge auf die Alleinstellung des gesprochenen Wortes. Du hängst an papierenen Büchern, Zeitungen und antiquierten Ausdrücken. Mir ein Rätsel, was die jungen Leute, mit denen du alle Nase zusammenhockst, an so einem Dinosaurier finden.“ Ähm – die mögen das, und ich mag es auch.