Quergedanken

Quergedanken Nr. 46

Neulich wirft Freund Walter in eine traute Runde: „Mal unter uns: Habt ihr euer Geld noch, oder ist es verbrannt?“ Über die bis dahin offenherzige Unterhaltung legt sich Verkrampfung. Das Thema scheint gar zu intim. Man kehrt lieber rasch zurück zu Glaubensfragen, zu Sexualvorlieben vor dem Frühstück und Aspekten des Magen-Darm-Geschäfts hinterher. Doch Walter legt nach: „Was wird euch denn die neue Abgeltungssteuer kosten?“ Und: „Wie trifft euch das neue Erbrecht?“ Betretenes Schweigen als der Frager die anhebende allgemeinpolitische Diskussion unterbricht: „Ich will nicht wissen, was ihr davon haltet, sondern in welchem Maß ihr betroffen seid.“

Das geht zu weit, wäre ein Offenbarungseid. Allein der Freund lässt die Hosen runter: „Der Finanztumult hat mich vorerst keinen Heller gekostet, die Abgeltungssteuer geht mir am Arsch vorbei und das neue Erbrecht ist mir wurscht.“ Maulaffenfeil im Rund. Walters nachgeschobener Grund: „Ich verdiene im Jahr brutto nicht mal ein Viertel jener 150 000 Euro, die sich Herr Mehdorn diesmal als Gehaltserhöhung draufsattelt. Wovon hätte ich Aktien kaufen sollen, was in Fonds anlegen, womit spekulieren?“ Er rechnet vor: Um den Steuerfreibetrag bei Sparzinsen zu überschreiten, müsste er, der Unverheiratete, ständig mehr als 20 000 Euro auf der Bank liegen haben. Um im Erbfall zur Kasse gebeten zu werden, müsste sein alter Herr ihm über 400 000 Euro vermachen. „Wovon wird da eigentlich geredet? Das sind für unsereins Beträge wie vom andern Stern!“

Mit „unsereins“ meint Walter jenes Drittel der Bevölkerung, dass über fürsorgliche Mahnungen zur zusätzlichen Privat-Altersvorsorge nur lachen kann. Wo nichts übrig ist, Herr Jesus Christ … Dabei heißt es, die Deutschen hätten Hunderte Milliarden auf dem Sparbuch, würden nochmal so viele demnächst erben?! Mag sein. Aber welche Deutschen? Die Durchschnittsrechnerei macht keinen Unterschied: Etwa zwischen wohlhabenden Mittelrheinern (die soll's geben) und solchen, die als Leiharbeiter an ein hiesiges Großunternehmen billig ausgeliehen werden – von einer Leiharbeitsfirma, die das Unternehmen selbst in die Welt gesetzt hat, bestückt mit nach der Lehre in eben diesem Unternehmen nicht übernommenen Ex-Azubis.

Worüber reden wir eigentlich?! Wäre Walter etwas älter, er könnte seinen Zwischenruf mit Klaus Staeks satirischem Klassiker von 1972 verdeutlichen: „Deutsche Arbeiter, die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen.“ Den Spruch verstanden damals auch nur die Angesprochenen selbst sofort: Wieso, welche Villen? Was heute zu ergänzen wäre um die Frage: Welche SPD? An dieser Stelle würde aus besagter Tischrunde sicher entgegengehalten: Banales Bildnis, das die Vielschichtigkeit heutiger Globalverflechtungen, die Wechselwirkungen zwischen Finanz- und Realwirtschaft, die Bonität, die Variabilität, die Komplexität und andere Tätärätätäten nicht berücksichtigt.

Am Ende wär's wie beim Streit um den Zentralplatz zu Koblenz: Der gemeine Koblenzer weiß längst nicht mehr, wer hier was, wo, wie, warum will oder nicht – und vor allem wann. Er versteht nur noch Bahnhof, und dass es zur Buga womöglich doch keinen neuen gibt, weil die Kosten - erwartungsgemäß - um ein paar Millionen höher liegen als geplant. Schuld sollen sein der Chinese, der Stahlpreis, die Finanzkrise, Mehdorn. Alles normal, von Insidern schlüssig zu begründen, wie das Fällen von Bäumen zwecks Begrünung der Bundesgartenstadt  auch. Natürlich sind Walter und das von Geldanlagen freie Gesellschaftsdrittel (vorhin „unsereins“ genannt) viel zu dumm, all die komplexen Zusammenhänge zu begreifen. Was aber, sollten sie dennoch mal die Geduld damit verlieren?

Quergedanken Nr. 45

Es wird einem ja ganz schwindelig von so viel grundstürzenden Weltveränderungen im Eilzugtempo. Die CSU vom Jahrhundertthron gekippt. Die letzte der alten Supermächte (USA) mit der Schnauze im Dreck. Ihr präsidialer Bush der unbeliebteste Typ weltweit. Die globale Wirtschaftselite vermisst zwischen Frühstück und Feierabend plötzlich ein Portemonnaie mit 3000 Milliarden Dollar drin. Am Spielautomaten versemmelt oder Kolleginnen von Brigittche (1) selig ins Höschen gesteckt – wie die TuS-Kicker vor Rostock ihren Verstand?

Nichts Genaues weiß keiner.  Der siegreiche Weltkapitalismus jedenfalls plötzlich auf dem letzten Loch pfeifend. Seine Helden geteert und gefedert auf den multimedialen Straßen spießrutenlaufend. Seine schreibenden, dozierenden, singenden Parteigänger von eben aufheulend wie betrogene Liebhaber, und ebenso rachsüchtig. „Neoliberal“ wird zum Unwort des Jahres, „freier Markt“ zum Synonym für Pestilenz. Privatisierung klingt wie Abrisskommando, Börsengang wie Mehdorn,  Finanzmanagement nach Kannnitverstahn. Omas Matratze und Opas Genossenschaftsbüchse kommen als Geldanlage auch für Gutbetuchte in Mode. Die Banker sind schuld, der Papst verhängt den Bann über sie.

Die Kanzlerin probiert eine neue Rolle und befiehlt die Herren des Geldes zum Rapport. Der Finanzminister macht’s nach und versohlt den Ackermännern den Hintern. Der Staat rettet die Welt vor der Geldmarkt-Anarchie. Die politischen Aufseher über die Staatsbanken entkommen indes knapp der Guillotine, weil: Aus Blödheit mitzocken, duldend wegsehen oder von Tuten und Blasen keine Ahnung haben fällt bei Staatspersonal unter Unzurechnungsfähigkeit. So einfach lassen wir die privaten Wirtschaftsführer nicht aus. Deutsche Massenblätter schreien nach Käfigen für den Raubtierkapitalismus. Die Chefsprecher von heute-journal wie Tagesthemen rufen Lenin zu Hilfe: „Vertrauen ist gut, Kontrolle besser“. 

Bischof Marx donnert von der Kanzel wider Kapitalistengier. Sein historischer Namensvetter aus Trier ist dieser Tage der meistzitierte Klassiker, dessen „Kapital“ wurde seit Jahren nicht mehr so gut verkauft wie heute. Deutschland hat seinen Verteidigungskrieg am Hindukusch verloren, unsere Soldaten kämpfen nur noch ums nackte Überleben. Der greise Marcel Reich-Ranicki haut der versammelten Fernseh-Mischpoke ein giftiges „Blödsinn!“ um die Ohren. Elke Heidenreich legt „hirnlose Scheiße“ aus „verlotterten Sendern“ nach. Worauf Freund Walter und ich jubelnd anstoßen: Wunderbar, auf ewig Dank, beiden!

PFFFfffffff.

Wenn Sie diese Zeilen lesen, liegt das alles schon ein paar Tage zurück. So schnell, wie die Welt sich momentan dreht, sieht sie bei Erscheinen des Heftes (2) vielleicht schon wieder ganz anders aus. Womöglich hat die Bundesregierung inzwischen alle Banken verstaatlicht und im Gedenken an einstige SPD-Forderungen sowie an das erste CDU-Nachkriegsprogramm die großen Schlüsselindustrien gleich mit. Mag sein, die Berliner Koalition hat in Rückbesinnung auf den territorialen Verteidigungsauftrag des Grundgesetzes die Bundeswehr aus allen Auslandseinsätzen zurückbeordert. Könnte sogar angehen, dass  zwei, drei Herren, die in Rheinland-Pfalz Ministerpräsident waren, zwischenzeitlich ihre Vorreiterrolle beim Ermöglichen der hemmungslosen Ausbreitung des Privatfernsehens bedauern.

Am Ende ist keineswegs auszuschließen, dass nunmehr auch der letzte Mitbürger begriffen hat: Geld arbeitet nicht, es sind allein Menschen, die arbeiten. Wo es scheint, als vermehre sich Geld von selbst, liegt in Wahrheit vor, was Marx Enteignung der Produzenten und Brecht  Diebstahl nannte: Zins und Profit, die oben abgeschöpft werden, sind unten erarbeitet worden. Falls nicht, wird nur mit heißer Luft gehandelt. Was also ist Finanzkapitalismus? Mal Hehlerei, mal der reine Blödsinn. Meist beides zugleich.                                             

***
 
(1) Brigittche hieß eine über Jahrzehnte allseits bekannte und vielfach beliebte Altstadt-Hure in Koblenz. Dieses "Original" ist heuer im Sommer gestorben.

(2) "Heft"  meint die mittelrheinische Monatszeitschrift "Kulturinfo", die jeweils zum Monatswechsel erscheint und stets auf Seite 2 meine Kolumne "Quergedanken" enthält. Zwischen Redaktionsschluss und Erscheinen des Heftes liegen in der Regel knapp zwei Wochen.

Quergedanken Nr. 44

„Wir können alles – außer Hochdeutsch“. Dieser Spruch aus Baden-Württemberg ist ein selten gelungenes Beispiel für originelle Landeswerbung. Obendrein versammelt er zwei Völkchen unter einem Banner, die sich seit Urzeiten nicht grün sind: Badener und Schwaben. Im Vielvölker-Freistaat Bayern gibt’s eine noch knackigere Volksfront-Losung: „Mir san mir“.  Was sich übersetzen lässt als: Leckts mi am Oarsch, Saupreißen, damische! Selbstredend funktioniert das sture wie stolze Pochen auf regionale Eigenartigkeit nur in  Opposition zum Rest der Welt, zum Berliner Großgetue insbesondere.

Rheinland-Pfalz verfügt leider nicht über vergleichbare Wortgewalt. Die einschlägigen Werbemittel verzichten hier weitgehend auf schlagkräftige Parolen, heißen Besucher und Neugierige allenfalls lieb „willkommen“ zum „Genießen“ von „Einmaligkeit“. Die Mainzer Staatskanzlei immerhin hängt den Slogan „Wir machen’s einfach“ zum Internetfenster raus. Genial geht anders. Für den Schulterschluss zwischen Pfälzern, Rheinhessen, Moselfranken und Rheinländern taugt das Sprüchlein wenig: Es klingt nun mal all zu brav nach Baumarkt oder Volksbank.

„Dann lass du dir was einfallen!“, fordert Walter. „Drei, vier Wörtchen, rotzig, trotzig das regionale Wir-Gefühl beschwörend; kann so schwer nicht sein.“ Der Freund hat  Vorstellungen. So ein „Mir san mir“ reimt sich doch nicht daher wie ein Büttenkalauer zur Fastnacht. Da steckt Widerborstigkeit von Generationen drin. Gegen die ethnologische, politische, psychologische Vielschichtigkeit von „Mir san mir“ sind selbst werbliche Geniestreiche wie „Bitte ein Bit!“ bloß Tinnef. Und überhaupt: Wüsste ich einen zündenden Slogan, ich schriebe ihn hier nicht hin, sondern ließe ihn zuerst patentieren, hernach von Landesregierung oder Koblenz-Touristik vergolden – und setzte mich dann zur Ruhe.

Man müsste Geist und Gestus des Rücktritts von Kurt Beck als Chef der Bundes-SPD in eine handvoll Worte fassen können. Das wär’s! Das wäre die rheinland-pfälzische Entsprechung zum bayerischen „Leckts mi am Oarsch, Saupreißen, damische“. (Statt „damische“ noch besser: „hintervotzige“). Jetzt sind die hiesigen Mundartpfleger aufgerufen, ihren Sachverstand in die aktuelle Waagschale zu werfen. Aber bitte nicht mit „Ich sayn ich“ oder „Ich bleiv me treu“ – da könnten wir ja gleich Staatskanzlei-Dichter und Bankhaus-Poeten verbandeln: „Kurt mächt ohfach dä Wech frei“. Ein bisschen mehr Schmackes braucht’s schon, weil auch ein bisschen mehr dahinter steckt.

Das machen die Folgen des kurzbündigen Trennungsaktes deutlich. Wann je hatte man schon mal so eine Konstellation: Die Bundes-SPD freut sich, dass sie den Kurt los ist. Die Landes-SPD ist überglücklich, dass sie ihn wieder ganz für sich hat. Die Landes-CDU hingegen wäre lieber an der Stelle der Bundes-SPD, nämlich Kurt los. Während die Bundes-CDU ihn lieber behalten hätte, als nützliches Linksgespenst. Wobei Letzteres einmal mehr  beweist, dass von verschiedenen Ecken der Republik aus die Welt doch sehr verschieden ausschaut. Ausgerechnet Kurt Beck ein Linker??? Auf so eine Schnapsidee können nur Nicht-Rheinland-Pfälzer kommen oder Zeitgenossen, die sich an Gerhard Schröder als den Kanzler einer CDU/FDP-Regierung erinnern.

Links oder eher nicht: „Uns Kurt“ hat es den Schnöseln, Großkopferten, Ränkeschmieden in Berlin gezeigt. Wie die Herrschaften in Partei und Medien sich das dachten, so lässt kein Pfälzer, ließe erst recht kein Mittelrheiner mit sich umgehen. Wir können über alle Maßen gemütlich sein, zum Steinerweichen provinziell und bis zum Exzess bieder. Eines aber können wir hier nicht, ob Ministerpräsident, Schreiberling oder Reb- und Rübenbauer: Uns für dumm verkaufen lassen und das Kreuz verbiegen.

Quergedanken Nr. 43

So aus intellektueller Distanz betrachtet, kann Kapitalismus bisweilen recht lustig sein. Beispiel: Es rufen die Wirtschaftsverbände unisono nach mehr Geld in Volkes Hand. Auf dass ein kräftiger Konsumschub der Konjunktur beistehe. Ist recht, denkt sich unsereins naiv: Legt mal auf die Löhne ordentlich was drauf. Nö, nö, so nicht, kontern die andern gleich: Höhere Löhne wären Gift fürs Geschäft. Darauf wir, wieder naiv: Ei, woher sollen die Kröten für den Konsumrausch denn kommen, wenn nicht aus der Lohntüte? Antwort: Aus der Senkung der Lohnnebenkosten. Was auf  gut deutsch heißt: Nehmt`s gefälligst vom Staat und den Sozialkassen.

Da lacht Walter wieder – und denkt an das Gezeter derselben Wirtschaftsverbände, wenn die Straßen verrotten, die Schulabgänger nichts können, die Unis zu wenige Ingenieure liefern, die Bevölkerung schrumpft, die Hartz-IV-Zuschüsse für Niedriglöhner oder die Frühverrentung in Frage stehen. Das Lachen über Absurdistan tut dem Freund wohl, nachdem er zwei Olympia-Wochen lang eher mies drauf war. Wie Sie wissen, Walter hat für Sport  einiges übrig. Jedenfalls in der Rolle des Zuschauers. Und als solchen frustrierte ihn die Olympia-Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen TV-Anstalten arg. Für die Zeitdifferenz zwischen den Weltstädten Peking und Koblenz können ARD und ZDF zwar nichts. Ebenso wenig für den Umstand, dass Werktätige hierzulande mit Übertragungen zwischen 3 und 17 Uhr meist wenig anfangen können. Verwiesen war der Sportsfreund also auf Zusammenfassungen am Abend.

Aber welch ein Krampf flimmerte da ins Haus: Statt Wettkampflust nebst Interesse an den  Leistungen anderer Sportler bloß deutsche Medaillenparade, Geschwafel und Tinnef der Marke „Oma weint in Pusemuckel über ihren Goldbuben in China“. Auf der Flucht vor Beckmann wie Kerner  und der Suche nach der „richtigen“ Olympiade nudelten Walter und ich zwischen Feierabend und ortsüblicher  Schlafenszeit die Programme durch. Mit mäßigem Erfolg: „Eurosport“ folgte vor allem den Spuren der US-Athleten; das so genannte Deutsche Sport Fernsehen kaprizierte sich derweil auf Leibesübungen in den nichtolympischen Rubbel- und Schütteldisziplinen. Übermenschliches auf beiden Kanälen.

Die Leserschaft möchte obigen Weltstadtvergleich Peking/Koblenz für mutwillig  halten? Wenn sie sich da mal nicht täuscht. Hinsichtlich Größe wie politischer Eigenheiten wäre der Vergleich Unfug, logisch. Aber die Weltläufigkeit der beiden Städte, die, Herrschaften, kann man durchaus ins Verhältnis setzen. Hier wie da ist Englisch vorherrschende Sprache geworden. Für Olympia haben auch die letzten Pekinger noch geschwind Englisch gelernt. Für Koblenz beweist schon ein kleiner Stadtbummel: Rund um German Corner wird englisch spoken.

Die Beschriftungen quer durch Oldcity und Shopping-Center schreien nach einer postolympischen Partnerschaft mit Peking. Man sollte die jetzt arbeitslos gewordenen chinesischen Volunteers herholen. Sie könnten den Koblenzern beim Stadtgang behilflich sein. Schließlich weiß der geschulte Chinese, dass ein „Hairkiller“ ungefährlich ist und weder „Juice in the City“ noch „Beauty in the City“ etwas mit einem „Erotic-Store“ im Sinne von „Sex in the City“ zu tun haben. Auch würde der Chinese seinen Schutzbefohlenen vorbeilotsen an „Sale“, „Final Sale“ oder gar „Power Final Sale“ mit dem Hinweis „Come in and find out“. Was nach Konfuzius meint: Komm herein, um hinauszufinden. Solch weise Belehrung könnte vor dem Verhungern bewahren. Denn wer denkt bei „Factory“ schon an  Brotladen oder bei „Subway“ an Stullen-Büfett – in dieser Stadt, die dir strotzend vor globalophilem Heimatbewusstsein zuruft: Eat fresh! Meet your style! Feel glamorous! Thank God: You are a Middlerhiner! 

Quergedanken Nr. 42

Hallo, aufwachen! Ja genau, Du da, und Sie dort auch! Stand doch neulich in der Zeitung: „Noch schläft die Anti-AKW-Bewegung – während die Atomlobby frohlockt.“ Ich habe den beunruhigenden Befund erst mit Verspätung gelesen. War im Urlaub und gönnte mir den Luxus,  drei Wochen lang gedruckte, elektronische versendete oder sonst daher geplapperte Nachrichten zu ignorieren. Eine Wohltat, ein nachgerade orgiastisches Erlebnis. Auf Schusters Rappen durch Wald und Wiesen über Rhein- und Westerwald-Steig ziehend respektive im schönen Lande Balkonien herrlich blöde Wälzer über Abenteuer auf fernen Planeten verschlingend. Dann die Rückkehr, der Kater: Verglichen mit hiesig-heutiger Wirklichkeit sind die Fantasmen über das Sternenreich der Mutanten von Syracusa anno 9276 ein Ausbund an Vernunft.

Kurz nur war ich mal eben weg, schon tanzen die Mäuse auf dem Tisch. Gerade sah es noch so aus, als sei mit dem „Fall Asse II“ der Fall Atomtechnik generell und letztinstanzlich abschlägig beschieden. Nun offenbart die nachholende Zeitungslektüre, dass die nuklearen Zauberlehrlinge nicht nur nichts gelernt haben, sondern mit frechem Mut und den gleichen Argumenten wie vor 30 Jahren ein Paradies unerschöpflicher, sauberer Energie versprechen. Gestern noch habt Ihr das als wohlfeile Lobby-Propaganda verworfen. Heute erwärmt Ihr Euch plötzlich für die antiquierte Großtechnik, lasst Euch von Werbesprüchen einlullen, wonach Atomkraftwerke den Strom billiger machen, die Energieversorgung unabhängiger und obendrein den Klimawandel aus der Welt schaffen. Dabei ist das, als wollte man unter Stabführung des Großinquisitors den Teufel mit dem Belzebub austreiben.  

Oh ihr Leichtgläubigen! Schon vergessen, warum wir in großer Mehrheit für den Atomausstieg waren? Weil wir mal wussten, dass Radiaktivität weder lilafarben ins Auge sticht noch faulig in die Nase steigt, aber trotzdem lebensgefährlich ist. Weil uns mal klar war, dass im Schadensfall das „Restrisiko“ selbst der „sichersten“ Kernkraftwerke die normalen Unfall-Folgen der gesamten konventionellen Industrie weit in den Schatten stellt. Weil wir begriffen hatten, dass unser Atommüll schon der Gegenwart eine dreckige Last aufbürdet, die nachher für Jahrtausende zum Horror-Erbe wird. Weil wir verstanden hatten, dass eine Ausrichtung auf milliardenteure Atomgiganten die Gesellschaft in völlige Abhängigkeit von großen Energiemonopolen bringt. Weil uns schwante, dass allein die Sicherheitsbelange von etlichen Dutzend Atommeilern das Land grundstürzend verändern würden. Weil wir sahen, dass in ihrer ökonomisch-ökologischen Gesamtbilanz die Nukleartechnik eine entwicklungsgeschichtliche Sackgasse ist, auf der unsere Probleme bloß in verschärfter Form an Kinder, Enkel, Urenkel durchgereicht werden. Und so weiter… Hat sich an den Fakten irgendetwas geändert? Nö.

„Mei Herz! Mei Tropfe!“ zitiert Freund Walter jenen Ausruf, den ein Bad Emser Bürgermeister immer zu tun pflegte, wenn ihm was besonders widersinnig vorkam. Gut gerufen, denn nun geht der ganze Atom-Zirkus von vorne los. Alle Argumente müssen wieder aus den Kisten geholt, alle Diskussionen noch einmal geführt werden – der Vergesslichkeit wegen, und um jene junge Generation ins Bild zu setzen, für die Wyhl, Kalkar, Brockdorf, Mülheim-Kärlich, Three Mile Island und Tschernobyl bloß Teile einer schon historischen Erzählung sind. Womöglich müssen auch alle Bürger-Kämpfe noch einmal gefochten werden. Bis es, hoffentlich, erneut heißt: Atomkraft in Deutschland - politisch nicht durchsetzbar.

Also, verehrte Zeitgenossen, ob alt, ob jung, ob grün, rot, schwarz: Raus aus den Federn, das Bündel geschnürt, die Netzwerke geknüpft und gestritten gegen einen Kurs der Unvernunft mitten hinein in die atomare Vergangenheit!  

Quergedanken Nr. 41

 „Querdenker, pah! Du bist bloß ein Schöngeist mit Samthandschuhen. Weichei, Hosenschisser!“ Derart stänkert Walter immer, wenn Priol und Schramm mal wieder mit „Neues aus der Anstalt“ zugeschlagen haben. Irgendwann wird er mir so noch meine liebste Fernsehstunde verleiden. Was denkt sich der Freund? Wie erginge es dem Regional-Kolumnisten wohl, würde er hiesige Provinzgrößen ähnlich abwatschen wie jene Kabarett-Recken die Bundes-Hautevolee, Angeeela und Staatspräsident inklusive?

Spötterei und Despektierlichkeit gehören sich nicht im Kurtfürstentum Rheinland-Pfalz. Man denunziert hier keine Bürgermeisters-Rede als weihevolle Banalität und niemals Badegewässer-Berichte des Mainzer Umweltministeriums als Mummenschanz. Niemand spricht hier öffentlich über  Parteifunktionäre wie im ZDF Priol über Profalla: „Ich fürchte, der weiß von gar nichts“. Wenn die in alle Welt strahlenden Kulturleuchttürme des Landes beschworen werden, denkt man zwischen Remagen und Pirmasens so wenig an Taschenlampen wie bei Personalia an Seilschaften. Weshalb hierorts keinem je der Verdacht käme, die Ankunft des olympischen Feuers auf dem Mount Everest könnte im gleichen Studio inszeniert worden sein wie die amerikanische Mondlandung.

Alles im Lot auf dem rheinland-pfälzischen Boot. Die Regierung steht, die Opposition ist dagegen. „Doppeldeutiges Gesülze“, mault Walter und diktiert, wie nach seiner Ansicht der Satz lauten müsste: „Die Regierung herrscht, statt zu regieren, die Opposition schwallt, statt zu opponieren. Und den sachten Wink mit dem Kurtfürstentum kannste sowieso vergessen – die halten das für einen Druckfehler.“ Zumindest an Letzterem, lieber Freund, habe ich inzwischen Zweifel. Denn die Sozis im Land sind nach den jüngsten Wahlgängen am Mittelrhein dünnhäutig geworden.

Ach was, dünnhäutig: Ihnen geht regelrecht der Ar… auf  Grundeis, seit klar ist, dass Kurts  Nationalkurs zwischen Kapitalismus-Marketing, Kleineleute-Politik und schmollmundigem  Anti-Links-Schwur selbst ganz unten im Stammland locker 10 Prozent zusätzlich kosten kann. Das müsste in Rheinland-Pfalz eigentlich die große Stunde der Opposition sein. Aber triffst du am Mittelrhein Unions-Parteigänger, ringen die bloß klammheimlich die Hände und weinen hinter selbigen: Nirgends Kohl oder Saumagen, weit und breit kein Schwergewicht, das dem amtierenden Dicken die Butter von der Mainzer Stulle holen könnte.

Lassen wir die schnöde Politik und wenden uns den angenehmen Seiten des Lebens zu, etwa dem Sportsommer 2008. Falsches Stichwort: Walter fängt augenblicklich an, mit den Zähnen zu knirschen. Die  getürkte Zeitungsschlacht zwischen deutschen und polnischen Springer-Blättern hatte ihm gleich zu Anfang die EM-Stimmung verdorben: „Die würden einen Krieg entfesseln, wenn`s nur dem Geschäft diente.“ Dagegen wollte er mit eigener Autobeflaggung anstinken und verschaffte sich zwei Stander. Nicht Ständer, bitteschön; den Unterschied habe ich schon in den WM-Quergedanken „Die Fähnchen flattern um uns rum“ im Juni 2006 erklärt (können Sie nachlesen unter  ∇ 2006-06-27 Kolumne:Die Fähnchen flattern um uns rum).

An besagte Stander hängte Walter hüben die Regenbogenfahne mit Picassos Friedenstaube drauf, drüben eine Trikolore mit schwarzem Rändchen oben und güldenem unten. Auf der großen roten Fläche dazwischen prangte das Konterfei von Jakob Siebenpfeiffer. Wer das ist, wusste wahrscheinlich keiner jener Fahrer in den anderen schwarz-rot-gold beflaggten Autos, die dem Freund alsbald den Vogel zeigten. Dessen Fähnchen waren denn auch schon nach zwei Tagen von fremder Hand heimlich eingezogen. Wissen übrigens Sie, verehrte Leser, wer Jakob Siebenpfeiffer war? Ein Deutscher und  Pfälzer, auf den man wirklich stolz sein kann. Schlagen Sie mal nach!

Quergedanken Nr. 40

Kennen Sie den fundamentalen Unterschied zwischen Manta-Proll und Porsche-Yuppie oder zwischen Polo-Tussi und BMW-Mieze? Nein? Ich auch nicht. Vom Gefälle bei den Bankguthaben sehen wir mal ab; das mag gravierend und unverdient sein, fundamental ist es in diesem Fall nicht. Aufs Bildungsgefälle zwischen den Klienten brauchen wir ebenfalls nicht einzugehen: Hinsichtlich der Persönlichkeit hat hier der Hauptschulabschluss so wenig genutzt wie dort vielleicht ein Universitätsexamen. Beide Typen sind in einem entwicklungsgeschichtlichen Stadium stecken geblieben, in dem der Homo erectus sich zwar vom Affen schon unterscheidet, aber bis zum Homo sapiens noch allerhand vor sich hat.

Die Rede ist von Entwicklungsstufen, wo wir an die Wunderkraft von Körperbemalungen, Amuletten, Knochenresten oder Kreuzsplittern glaubten. Von Zeiten also, da Fetische auf den Alltag mehr Einfluss hatten als Menschenverstand. „Erkläre Fetisch“, wirft Freund Walter ein, „sonst beschwert sich wieder einer über zu viele Fremdwörter.“ Also Fetisch – das ist, wenn ein Mann beim Anblick eines Frauenschuhs in libidinöse Unruhe gerät, obwohl womöglich im Schuh gar keine leibhaftige Frau steckt. Der Schuh ist für ihn Objekt der Begierde ganz unabhängig von dessen Funktion als Gehwerkzeug. Mithin ist der Frauenschuh ein Fetisch und der darob erregte Mann ein Fetischist.

Das soll’s auch bei Frauen geben. Amerikanische Zigarren-Fetischistinnen gelangten zu präsidialer Berühmtheit. In hiesigen Männerrunden kursieren bisweilen makabere Leidensgeschichten über Krawatten-, Staubsauger- oder Rauchverbots-Fetischistinnen. Doch zurück zu Manta-Proll und Porsche-Yuppie. Beiden gilt ihr vierrädriger Untersatz erst in dritter Linie als Fortbewegungsmittel. Zuvörderst verstehen sie die Karre als Signum ihrer Persönlichkeit. Sodann als Wundermittel zur Steigerung der eigenen Anziehungskraft und Männlichkeit respektive Fraulichkeit. Ergo, erfüllt für Proll und Yuppie, Tussi und Mieze das Automobil die gleiche Funktion wie Körpertattoo hier oder Cartier-Umhänger da: Sind alles Fetische.

Just in Deutschland scheint solcher Aberglaube tief verwurzelt. Beweis: Dort werden die unzweckmäßigsten aller Autos gebaut und zuhauf gekauft. Da treiben 250-PS-Verbrennungskraftwerke tonnenschwere Limousinen an, um ein paar Kilo Mensch zu segnen, als Mann oder Frau von Welt erscheinen zu lassen. Da werden Luxuskarossen zu Geländewagen aufgerüstet, als handle es sich bei deutschen Autobahnen, Koblenzer Boulevards und Westerwälder Landstraßen um südamerikanische Regenwaldpfade oder sibirische Schneepisten; der Großwildgefahr am Mittelrhein wegen vorzugsweise mit Büffel- und Elefantenfänger als Frontstoßstange bewaffnet.

Woraus folgt (vgl. Schuh-Beispiel): Das Automobil ist für (viele) Deutsche ein Objekt der Begierde, unabhängig von seinem Gebrauchswert. Also ist es ein Fetisch und wird deshalb Deutschland mehrheitlich von Fetischisten bevölkert. Weil bei rheinland-pfälzischen Politikern Volksnähe bekanntlich groß geschrieben wird, versteht man nun auch, weshalb der Öffentliche Geist hier fortwährend um Straßenentwicklung rotiert, statt sich auf die durchaus gewaltige Herausforderung eines zukunftsfähigen Nahverkehrswesens einzulassen: Politiker mimen die Priesterschaft auf dem asphaltierten Ritualplatz des automobilen Aberglaubens.

Woraufhin Freund Walter, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, ziemlich ratlos vor sich hin dichtet: „Erst wenn in Hunsrück, Eifel, Westerwald und Taunus der letzte Bahnhof verkauft, das letzte Gleis rausgerissen, die letzte Trasse in einen Radweg verwandelt ist und die letzte Bushaltestelle in privatisierter Vereinsamung verstaubt – erst dann werdet ihr begreifen, dass man Benzin nicht essen kann und Autos ohne Benzin nicht fahren.“  

 

Quergedanken Nr. 39

Die Welt ist ungerecht. Zwar liegt dieses Trier geradezu am Allerwertesten derselben. Was das Städtchen indes keineswegs hindert, zu tun, als sei es deren Nabel. Von den Kaiserthermen zur Porta Nigra bist du in 20 Minuten spaziert. Kürzer geht´s vom Koblenzer Hauptbahnhof zu Wilhelms Eck auch nicht. Dennoch tönen die dahinten an der Obermosel, wo sich allabendlich Fuchs und Hase „gute Nacht“ wünschen: Trier – größte spätantike Stadt nördlich der Alpen, zweites Rom, Kaiser-Metropole…

Dabei stünden die Herrschaften betröppelt da, hätte nicht Kaiser Diokletian anno 293 aus schierer politischer Not Treveris, diese belanglose  Etappengarnison, zur Kaiserresidenz aufgewertet. Nie wäre sein Nachfolger, der große Konstantin, dorthin gekommen. Nie hätten Zehntausende jüngst Anlass gehabt, eine Konstantin-Ausstellung in Trier zu besuchen. Die Trierer selbst wären zwecks weltweiter Aufmerksamkeit ganz auf den ungeliebten Sohn ihrer Stadt verwiesen: Auf Karl Marx, dem sie nun 2018 eine große Ausstellung einrichten dürfen/müssen. Was die wohl zeigen wird? Beschriebenes Papier bergeweise und den spärlichen Hausrat von Gattin Jenny?

Immerhin, Kaiser wie Rauschebart haben die Welt bewegt – was sich von kurtrierischen Fürsten kaum sagen lässt, wie Mittelrheiner gut wissen. Ein Schloss, das mittlerweile gerade noch als Herberge für Amtsstuben durchgeht, haben sie uns in Koblenz hingestellt. Fürs örtliche Theater kein eigenes Geld gehabt, aber mit Feudal-Franzosen fraternisiert und uns so die Pariser Revolutionsarmee auf den Hals gezogen; nicht ohne selbst beizeiten Fersengeld zu geben. Mit Kurfürstens ist kein Staat zu machen, weshalb die Trierer lieber römische Kaiser und sogar den ollen Marx in Dienst nehmen. Hauptsache, Touristen strömen – seien es auch  Rotchinesen oder neureiche Ex-Komsomolzen auf Nostalgie-Reise zum Urquell des wissenschaftlichen Sozialismus.

Welche Pfunde aber bleiben uns Mittelrheinern? Den Emsern ihre Depesche, den Kaubern ihr Blücher, den Mayenern wie den Goarshäusenern hübsche Frauen-Sagas. Na ja. Und was bleibt den Koblenzern – außer ihrer ewig vergeblichen Suche nach dem Beweis für eine bedeutende Statthalterschaft des Imperium Romanum am Ort? Die blasse Erinnerung an einen großen Augenblick: Rittersturz-Konferenz. Ferner eine zwiespältige Ahnung von Joseph Görres, der erst mit Marx marschierte, unterwegs jedoch zum Papst überlief. Ansonsten? Preußens Gloria, beidseits des Rheins mal wehrhaft, mal pittoresk in Stein gehauen.

„Haben sich Herr Oberlehrer endlich ausgekotzt?!“ Freund Walter wirkt ungehalten: „Warum nur reiten ältere Leute immer auf alten Geschichten herum?“ Das, mein Lieber, erklärt die jüngste Gehirnforschung: Sofern ein Menschenhirn zeitlebens rege war und noch nicht pathologisch vergreist ist, neigt es im reiferen Alter intuitiv dazu, komplexe Zusammenhänge auch als solche zu betrachten. Beispiel: Erst der zeitliche Rückbezug lässt uns entdecken, dass der Textilhandel just versucht, unser Denken umzukrempeln.

Wenn ich früher neue Pullover brauchte, ging ich im Kaufhaus zur Herrenabteilung und dort in die Sektion, wo sämtliche Pullover versammelt waren. Als ich neulich einen kaufen wollte, fand ich nirgends Pullover-Sektionen, in etlichen Etablissements nicht mal mehr eine Herrenabteilung. Die Läden sind neuerdings nach Marken sortiert, statt vernünftig nach Produkten. Hosen, Pullover, Shirts wild durcheinander, einziges Ordnungskriterium: Die Hoheitsinseln von Boss, Esprit, S.Olivier e tutti quanti. Hat irgendein junger Mensch diesen Wandel überhaupt bemerkt? Siehste Walter, das ist die Stärke älterer Hirne mit ihren „alten Geschichten“: Sie kaufen Pullover, nicht Schall und Rauch – ob in Koblenz oder Trier. 

Quergedanken Nr. 38

Im mittelrheinischen Märzen 2008 spannt nicht mehr der Bauer sein Rösslein an. Es dröhnen vielmehr in den Motorblöcken der Bulldozer tausende Pferdestärken. Die sind jetzt losgelassen, werden das Oberzentrum am Rhein-Mosel-Eck bis auf weiteres um- und ümmerpflügen. Um Platz zu schaffen für ein neues Weltwunder: die Bundesgartenschau Koblenz 2011 als legitime Nachfolgerin der hängenden Gärten der Semiramis zu Babylon. Wer schön sein will, muss leiden – die Stadt kriegt Haarentfernung und Peeling verpasst: Alte Bäume wie alte Parkplätze werden ausgezubbelt und weggerubbelt, damit die Braut mit rosig-frischer Haut nachher auf dem Markt der Eitelkeiten was hermache.

Meckern gilt nun nicht mehr. Stattdessen stimmen wir ein in den freudetrunkenen Tat-Gesang: Jetzt geht’s lo-oos! Jetzt geht’s lo-oos! Freund Walter zeigt mir schon wieder den Vogel: „Warum, glaubst du, hatte man dich neulich zum großen Buga-Pressegespräch erst gar nicht eingeladen?“ Sag du es mir, alter Griesgram. „Ei, damit niemand so blöde Fragen stellt wie: Wird die Zahl der später mal neu entstehenden Parkplätze diejenige der an Schloss, Rheinufer und Deutschem Eck wegfallenden ausgleichen?“ Och Walter, du kannst einem auch jeden Spaß verderben. Ausgerechnet jetzt, wo mal wieder richtig frischer Wind durch die Mittelrhein-Metropole weht: die Seilbahn kommt, möglicherweise; die Zentralplatz-Bebauung kommt, irgendeine irgendwann; das Stadion kommt, auf jeden Fall; ein neuer Theaterintendant kommt, mit Sicherheit. Und um ein Haar wäre Koblenz sogar  Kolonialmacht geworden.

Kolonialmacht??? Aber ja, war doch fettes Thema in allen (drei) hiesigen Medien, dass ein Teil des Kreises Bad Ems sich heim nach Koblenz sehnt. Warum sonst hätte die Regierung des Gebietes „Golfclub Bad Ems“ ihre Enklave auf der Denzer-Haide in „Mittelrheinischen Golf-Club Koblenz“ umbenennen wollen. Dank des Vetos der Golf-Basis wurde am Ende zwar nichts draus. Aber wäre da ein politischer Wille gewesen, hätte sich für den Anschluss sicher auch ein Weg gefunden. Das ist so in der Politik - es sei denn, das Volk legt sich quer oder das ehrenwerte Beamtentum spielt aus Gründen der Staatsräson nicht mit. „Ach was“, wirft Walter ein, „Beamte haben zu gehorchen, basta.“

Das, lieber Freund, ist zwar landläufige Ansicht (sogar bei einigen Ministern), aber nur die halbe Wahrheit. Denn verpflichtet ist der normale Beamte auf Verfassung und Gesetz, nicht auf die gerade herrschende Partei. Weshalb die Privilegien des Berufsbeamtentums verbunden sind mit dem Recht, ja der Pflicht auf  „Remonstration“. Was meint: Beanstandung von Weisungen, die der Beamte für gesetzeswidrig, staats- oder gemeinwohlschädlich hält. Beamte sollen nicht so arg demonstrieren, müssen aber remonstrieren. Walter lacht lauthals: „Die Beamtenkaste als Kontrolleur der regierenden Parteipolitiker und Avantgarde der Zivilcourage von Amts wegen? Dieses Kabarett müsstest du mal in Rathäusern, Behörden und Ministerien spielen!“ So ist es aber – auch – gedacht, das Berufsbeamtentum in der Demokratie. Eigentlich.

In Südafrika scheint das zu funktionieren. Zumindest hat dort die Regierung auf Meldung der Behörden hin, dass die Versorgung der Bevölkerung mit Maismehl gefährdet sei, sofort reagiert: Die Verwurstung von Grundnahrungsmitteln zu Autobenzin wurde verboten. In den USA hingegen hört die Regierung offenbar wenig auf ihre Beamten: Die Benachrichtigung, dass im Südwesten des Landes absehbar eine strukturelle Wasserknappheit drohe, konnte Präsident Bush nicht bewegen, dem Geheimdienst die Ertränkungsfolter zu untersagen. Weshalb die Väter der amerikanischen Verfassung in ihren Gräbern rumoren und ein jeder mit dem Vater aus Frank Wedekinds Tragödie „Frühlingserwachen“ schwört: „Der Junge ist nicht von mir.“

Quergedanken Nr. 37

Man hat uns gesehen. Freund Walter und mich, am Schwerdonnerstag auf dem Kölner Hauptbahnhof. Er sich von mir verabschiedend, um mit einem Schwarm schwäbischer Närrinnen Richtung Schunkel-Märkten zu ziehen. Ich in Eile, weil mein Anschlusszug nach Berlin schon ausgezählt wird. Die Mädels sind eigens von Stuttgart her über Koblenz mit demselben Zug angereist wie wir. Nicht Walters, sondern des dionysisch-kölschen Ringelpietzes wegen; was später am Tag keinen Unterschied mehr macht. Womit auch die Unterstellung einiger Leser widerlegt wäre, Walter und ich seien ein Paar. Bisweilen sind wir ein Kopf und ein Ar…, ansonsten aber krankhaft fixiert aufs weibliche Geschlecht.

Jedenfalls ist nun entdeckt, dass wir über Fastnacht den Mittelrhein fliehen. Einer nach dem Motto „wenn schon doll, dann größtmöglich“.  Der andere nach der Devise: „Je weiter weg von den Dollhäusern, umso besser.“ Da kommt mir Preußens und unser aller Hauptstadt gerade recht. Zumal die regierungsgeschäftlich dorthin verschlagenen Rheinländer justament auf  Heimaturlaub sind. Folglich schlurfe ich als Ehrengast des Bundestages durch die vereinsamten Flure der inneren Bezirke desselben. Kein Mensch weit und breit, nur droben in der Kuppel naseweise Volksmassen und am Hintereingang Wachleute beim Frühstück.

Was soll ich berichten aus dem Herzen der Macht? Es gibt dort beheizte und ordentlich möblierte Raucherzimmer. Auf dem Klo der FDP-Fraktion fehlt das Papier. Bei den Grünen kommt nur heißes Wasser aus den Hähnen. Ein Aufzug zwischen SPD- und CDU-Büros ist mit rohen Brettern vernagelt. An Überwachungskameras herrscht kein Mangel – die beobachten der Sicherheit wegen die Abgeordneten. An deren Stelle würden mich die Setzrisse im Verbindungsgang zwischen Reichtstag und Abgeordnetenhaus mehr beunruhigen: Der Gang führt unter der Spree hindurch. Auf der Meile von Brandenburger Tor über Parlament bis Kanzleramt zieht’s wie Hechtsuppe. Weswegen zwar das reichlich schwarz-rot-goldene Tuch ringsum hübsch flattert, menschliche Hirne indes zu fröstelnder Trägheit neigen.

Ein paar Schritte weg vom Regierungsviertel beginnt das große  Berlin. Ach, nenne mir keiner mehr Koblenz oder Mainz eine Großstadt – mögen am Rhein Bier, Schnitzel und Pizza, Theatergarderoben und Parkhäuser auch deutlich teurer sein als an der Spree. Mainz bleibt Mainz und Koblenz ein nettes Städtchen. Beiden fehlt so mancherlei zur urbanen Metropole. Etwa ein Nahverkehrsnetz, das Stadtteile und Umland im Minutentakt rund um die Uhr anbindet. Berlin hat so ein Netz, Millionen benutzen es so selbstverständlich wie unsereins das Telefon. Verglichen damit steckt die Mittelrhein-Region in der verkehrstechnischen Steinzeit. Allerdings können dennoch in Berlin etliche zehntausend Deppen von ihren dort überflüssigen Karren nicht lassen.

Wieder daheim! Ich mit heilen Knochen, trotz mancher U-Bahn-Fahrt selbst durchs nächtliche Berlin. Walter – dem rheinischen Katholizismus sei’s gedankt – am Aschermittwoch losgesprochen von den karnevalesken Sünden zu Köln. Nun sehen wir den großen Ereignissen entgegen, die sich in den kleinen hiesigen Gefilden anbahnen. Etwa dem ersten mehrtägigen Literaturfestival in Koblenz. Oder der Fertigstellung des ersten Bauabschnitts für den Limes-Kopf-Erlebnispark. Und vor allem: Dem Schaulaufen der letzten drei Kandidaten für die Chefposition am Theater Koblenz vor Kulturausschuss und Rat der Stadt. Am 6. März fällt die Entscheidung; es ist eine der auf Jahre wichtigsten für die heimische Hochkultur. Der Politik sei ein glückliches Händchen gewünscht – auf dass fürderhin das Theater die sonst durchaus geschätzte Beschaulichkeit des Mittelrheins mit der Widerständigkeit künstlerischen Weltgeistes bereichere.

 

Quergedanken Nr. 36

Was eine Aufregung! Die heimische Politik versorgt die Büttenredner am Mittelrhein noch geschwind mit Munition. „Der Walter tut frohlocken / am Zentralplatz fliegen die Brocken“ – täfftääh, täfftääh. Das wär’ doch was für die Bütt in Koblenz. Der betreffende Vortrag könnte mit einem literarisch-philosophischen Schlussbonmot sogar der hohen Fastnacht zu Mainz den Rang ablaufen: „Pflügt ein Schiffsbug durch die Stadt / Flanken hoch und gläsern matt / setzt ein Dreieck sich aufs Loch mit vieren / lässt sich einmal mehr studieren:/ Das Business glänzt im Luxusliner / im Beiboot schwingt die Kunst den Eimer.“ Uijuijuijuijui, auauauauau …

Ich muss Nicht-Koblenzer Leser um Nachsicht bitten. Sie haben den Furor nicht erlebt, mit dem  jüngst in der Mittelrhein-Hauptstadt jeder gegen jeden um die Neugestaltung des zentralen Platzes focht und noch ficht; Stichwort: Koblenzer Loch. Also müssen Ihnen die Hintergründe obiger Kalauer ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Machen Sie sich nichts draus, das geht selbst langjährigen Beobachtern am Ort nicht wirklich anders. Die Sache zu erklären, würde mehr Platz beanspruchen, als diese ganze Zeitschrift böte. Obendrein käme man flott vom Hölzchen aufs Stöckchen. Will sagen: Von der politisch beschwärmten „Einkaufsmetropole“ zur Justizmetropole, und damit vom neuen Einkaufstempel auf dem Zentralplatz zum neuen Justizpalast anstelle der noch zu schleifenden Deinhard-Halle.

Glücklich ist, wer vergisst – dass es für all die betroffenen Örtlichkeiten (Schlachthof inbegriffen) ehedem hochfahrende Kulturvisionen gab. Dass nach der Abhalfterung als Militärmetropole diese Stadt sogar mal den aufregenden Traum von der Kulturmetropole träumte. Ausgeträumt? I wo, sagt der Schängelche Michel, ein so reiches und hochkarätiges Kulturleben wie hier gibt es doch nirgendwo sonst – zwischen Remagen und Boppard. Täfftääh!

Am Aschermittwoch ist alles vorbei. Heuer sowieso. Dann stehst du notgedrungen draußen vor der Tür, grantelst über Antirauch-Kreuzzüglerin Bätzing und fragst dich, ob die auch nur die Spur einer Ahnung von den prä- wie postkoitalen Seligkeiten des Tabakgenusses hat. Ich will hier keineswegs dem Laster des Rauchens das Wort reden, allerdings die damit befassten Gerichte ermutigen,  „Nichtraucherschutz“ beim Wortsinn zu nehmen. Auf dass nach der rücksichtslosen Diktatur der Qualmer-Mehrheit zur Mitte des 20. Jahrhunderts im 21. nicht ein Zwangsregiment der neuen Abstinenzler-Mehrheit über die heutige Minderheit der Tabakfreunde hereinbreche. Denn Nichtraucherschutz und Freiheit, ihr Lieben samt und sonders, würden sich in vielen Fällen vernünftig verbinden lassen nach dem simplen Motto: Wo du hingehst, da muss ich nicht hingehen.

Könnte sein, dass die Tabakfrage am Ende noch die US-Präsidentenwahl entscheidet. Gewänne nämlich Hillary, hätte sie nicht bloß damit zu tun, in Ordnung zu bringen, was ihr Vorgänger auf der Welt versaubeutelt hat. Zugleich müsste sie neuer Verwicklungs-Potenziale gewärtig sein. Man stelle sich Staatsverhandlungen zwischen Frau Clinton und Herrn Sarkozy vor. Beide grinsen einander jedes Problem himmelblau – derweil im Beiprogramm der liebe Bill mit der schönen Carla eben mal ne gute Zigarre genießt. In solchem Moment könnte die Präsidentin der USA geneigt sein, den Präsidenten der Republik zu einem Schnäpschen zu überreden. Die Folgen für die internationale Politik mag man sich gar nicht ausdenken. Weshalb Amerika wohl gut daran täte, diesen cleanen Hansdampf Obama zu wählen.

Und von Walter sonst nichts? Der ist unansprechbar, weil in die Planung seiner Fastnachts-Sausen vertieft. Der Freund hat diesbezüglich einen Knall. Was soll’s: Helolaulaf!

Quergedanken Nr. 35

Mein Freund Walter ist ein Albtraum für die Wirtschaft. Denn: Er kauft nicht, weil es etwas (Neues) gibt, sondern wenn er etwas braucht. Folglich gibt er für Bücher und Wirtshausbesuche häufig Geld aus, für Klamotten nur gelegentlich und für technisches Gerät ausgesprochen selten. So kocht er Espresso seit seiner ersten Liebesnacht mit dem Dampfdruckkännchen, und steht befremdet dem Phänomen gegenüber, dass neuerdings jede Kaffeemarke einer eigenen Kaffeemaschine bedarf. Walters Toaster ist 14, sein Küchenmixer 18 Jahre alt. Die Stereoanlage hat mehr als zwei Jahrzehnte auf dem Buckel, und seine Bohrmaschine stammt vermutlich noch aus der Gründerzeit der Firma Black & Decker.

Dagegen hilft auch keine Werbeoffensive, Walter ist unempfänglich für Werbung – obwohl er mit Hingabe Werbespots verfolgt. Licht, Ton, Kamera, Dramaturgie, Witz oder Plattheit sowie der Protagonisten Schönheit oder Entstellung, darüber kann er sich nachher stundenlang auslassen. Wofür das betreffende Filmchen allerdings konkret wirbt, das entgeht ihm zumeist. Den Mann stört nicht im Geringsten, dass derartiger Benimm wachstumsfeindlich ist, also die Marktwirtschaft untergräbt. Und woher kommt diese Verweigerungshaltung? Sie ist das verfluchte Erbe von 68. Denn vor 40 Jahren ist die Welt aus den Fugen geraten. Die Jugend verlor den Respekt vor Alter und Konsumpflicht, vor  Strebsamkeit und Heimatreich, vor Führung und Tradition, vor Ehe und Zeugungstugend, vor Gott, der Wehrmacht, Adenauer und den USA.

Seither haben wir den Schlamassel. Mit der Verbannung des Rohrstocks aus den Klassenzimmern und mit der Annahme von Hinz wie Kunz, auch sie hätten ein Recht auf höhere Bildung, fing die PISA-Krise an. Die Entnazifizierung der Universitäts-Lehrkörper eröffnete den Niedergang der deutschen Wissenschaft. Mit den studentischen Kommunen begann der Sturm auf die heilige Familie und die Flucht der Frauen vor ihrer Natur. Rudi Dutschke ist verantwortlich dafür, dass heute nicht mal mehr Geheimdienste dem US-Präsidenten ein iranisches Atombombenprogramm glauben. Und wie das damalige Gerede von sozialer Gerechtigkeit schuld ist am Ende des Wirtschaftswunders, also an Massenarbeitslosigkeit und Hartz IV, so ist das seinerzeit in Mode gekommene  Schlechtreden des Kapitalismus Ursache für die heutige Massenpsychose namens Klimawandel.

Die 68er ruinierten die großdeutsche, pardon: die große deutsche Kultur derart, dass man im Land der Dichter und Denker nun abends ungeniert vorm öffentlichen Porno-TV rumzappelt, statt sich mit seinem Heftchen anständig unter die Bettdecke zu verziehen. Wenn stimmt, dass die Medien zwar ein verzerrtes, aber doch ein Spiegelbild der Gesellschaft sind, dann steht es sogar noch schlimmer. Dann nämlich verbringt eine Hälfte der Bevölkerung den Großteil des Lebens im Krankenhaus, während die andere Hälfte als Opfer, Täter oder Ermittler in Kriminalfälle verwickelt ist. Selbst in Koblenz toben hinter idyllischer Fassade in Wahrheit verderbte Spätfolgen von 68. Diesen Umstand deckt derzeit der Internet-Fünfteiler „C.S.I. Kowelenz“ mit ortsüblichem Feinsinn auf: Hei do lieht ä Laich am Deutsche Egg, Gauner in Küche und Keller selbst so ehrenwerter Etablissements wie Café Hahn und Circus Maximus, bescheuerte Polizisten ohne Autorität, Hurerei mitten in der Altstadt.

Walter blickt aufs Manuskript – und meckert: „Du spinnst wohl! Am Ende nehmen die Leute noch wörtlich, was du da schreibst.“ Ach was, Freund, unsere Leser können Satire unterscheiden von Rückblicken, die auf unschönen Nebenwirkungen und Ausflüssen von 68 so lange herumhacken, bis diese Rebellion selbst und mit ihr jedweder Gedanken an Rebellion als schierer Unfug erscheinen.

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