Quergedanken

Quergedanken Nr. 82

Er kann einem leid tun, so wie alle jetzt auf ihm rumhacken, ihm jede Malaise dieser Welt anhängen, ihn kujonieren. Hat er das verdient, der Kapitalismus, den selbst unverdächtige Zeitgenossen wieder beim wahren Namen schimpfen, statt ihm mit „freie Marktwirtschaft“ zu schmeicheln? Hat er verdient, dass die großbürgerliche FAZ seinen Erzfeind Karl Marx rehabilitiert? Dass die liberalbürgerliche „Zeit“ erst verlangt, ihn zu zivilisieren, und jetzt schon nach Alternativen zu ihm sucht? Dass gar die alten Getreuen aus Konservatismus, Liberalismus und   braver Sozialdemokratie ihm die Instrumente zeigen, mit Verstümmelung drohen?

„Hat er verdient, jawoll!“, schnarrt Freund Walter. Indes will es mir nicht in den Kopf: Wieso gerade jetzt? Was, zur Hölle, macht der Kapitalismus neuerdings anders, dass man ihm derart zu Leibe rückt? Folgt er doch nur treu dem Grundsatz, der seit jeher sein Wesen ausmacht und dem er alles unterordnet: Kapital wird bewegt, um mehr Kapital zu bilden; basta. Freilich, die Methoden sind heute riskanter und undurchsichtiger, die Geldmengen viel größer und ihr Zirkulations-Tempo  irrwitzig höher als der Herr Marx seinerzeit annahm. Aber sonst: Ist doch das gleiche Prinzip wie eh und je.

Vier Jahrzehnte habe ich wieder und wieder darauf hingewiesen, dass eben wegen jenes Prinzips und seiner ungesunden Folgen der Kapitalismus wohl kaum der Weisheit letzter Schluss sein kann. Früher gab man mir dann sehr oft den unfreundlich gemeinten Rat: „Geh doch rüber, wenn‘s dir hier nicht passt!“ (Den Jüngeren zur Info: „rüber“ meinte in die DDR) Ein blöder Reflex, wie ich noch immer finde, weil er der fundamentalistischen Logik folgt: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Walter feixt: „Stell dir vor, du könntest jetzt jeden, der am Finanzkapitalismus herummäkelt nach drüben schicken. Das gäbe die reinste Völkerwanderung.“

Nur, lieber Freund, „drüben“ herrscht nun ebenfalls die beste aller Welten – und steht inzwischen ähnlich vor dem Bankrott wie in den 1980ern das unselige Sowjetsystem. „Da hast du die Antwort“, sagt Walter, „auf die Frage, warum die Leute gerade jetzt so ungnädig mit dem Kapitalismus umgehen. Weil dieser Tage überdeutlich wird, dass auch er nicht halten kann, was er großmäulig versprochen hat: eine lichte und stabile Wohlstands-Zukunft in sozialer Gerechtigkeit.“

Und noch ein Gedanke weiter: Man kann sich nicht mal mehr trösten, der Kapitalismus sei das kleinere Übel. Denn er hat als einziges Übel überlebt – freilich bloß auf Pump. Weshalb er uns den ebenso unrealistischen wie widerlichen Zwang zu ewigem Wachstum auferlegt. Bis zum Ende unserer Tage sollen wir mehr und immer mehr Waren kaufen, so unnütz oder dämlich oder das Leben versauend sie teils sein mögen. Zugleich sollen wir sparen, was das Zeug hält. Wie lässt sich dieser Widerspruch auflösen? Gar nicht. Aber „die Märkte“ verlangen es?!

Tja, die Märkte, diese Dumpfbacken auf dem Weltenthron; neuerdings so unanständig, maßlos, gierhalsig, bar jeder Verantwortung fürs Gemeinwohl. „Quatsch, neuerdings“, knarzt Walter erneut dazwischen und zitiert einen Kenner der Szene: „Märkte haben keine Moral“, sie hatten nie eine, und „agieren sie frei, kann das zum Kollaps führen“. Ach Walter, schon wieder Karl Marx? „Nö, der 81-jährige Großspekulant George Soros neulich im Stern-Interview.“  Soll er doch rüber gehen, wenn‘s ihm hier nicht passt, dieser Soros.

Quergedanken Nr. 81

Nichts kann sich schneller bewegen als das Licht. Das ist der einzige Teil von Albert Einsteins Relativitätstheorie, den jeder kapiert. Ein anderer Teil –  alles ist relativ – übersteigt das Begriffsvermögen der meisten Leute. Wäre es nicht so, würden die wohlbestallten Schlauberger, die stets davon reden, „den Deutschen“ gehe es gut, zwangsweise wegen Volksverblödung als Leiharbeiter ans Fließband gestellt. Doch das nur am Rande. Mein Thema ist heute die Lichtgeschwindigkeit und der Umstand, dass der von mir hochverehrte Querkopf Einstein irrte mit seinem Edikt, nichts könne schneller sein. Zumindest wollen Wissenschaftler jetzt Mikroteilchen aufgespürt haben, die bei einem Trip von Genf zum Gran Sasso in Italien sich einen feuchten Kehricht um Alberts Tempolimit scherten.

Die Weißkittel sind noch unsicher, wissen nicht genau, was sie da eigentlich gemessen haben. Jedenfalls errechneten ihre Computer, dass da etwas mit Überlichtgeschwindigkeit vorbeigerauscht sein müsse. Weshalb die wissenschaftliche Grundregel zum Zuge kommt, dass jede Erkenntnis nur bis zum Beweis des Gegenteils gültig bleibt. Um genau zu sein: Sobald nur ein einziges Faktum auftaucht, das nicht zur Theorie passt, ist die ganze Theorie im Eimer. Sollte also jemand auf Erden mal ein Steinchen finden, das nach oben statt nach unten fällt: Sofort melden, denn ein Großteil der bisherigen Physik wäre perdu.

Walter ist aus dem Häuschen vor Begeisterung. Endlich sei Schluss mit „dem Schneckentempo Lichtgeschwindigkeit“. Die Vorstellung wäre ja auch zu furchtbar, sagt er, dass noch seine Urururenkel auf diesem Planeten festsäßen und immer nur den drögen Homo sapiens zur Gesellschaft hätten. Vor langer Zeit hatte ich dem Freund erklärt: Viereinhalb Jahre ist das Licht bei seiner Vakuum-Höchstgeschwindigkeit von 300 000 Kilometern PRO SEKUNDE bis zum nächsten Sonnensystem Alpha Centauri unterwegs. Für eine Strecke, die in SciFi-Heftchen und -Filmchen Perry Rhodan, die Raumpatrouille Orion oder Captain Kirk zwischen Frühstück und Mittag im All zurücklegen, bräuchte man realiter bei Lichtgeschwindigkeit gar so lange wie die ganze Menschheitsgeschichte bisher dauerte.

Nach dieser Erklärung nebst der Feststellung, dass unsere kannibalistische Primitivtechnik absehbar kein Raumfahrzeug hinkriegt, das auch nur zehn Prozent der Lichtgeschwindigkeit erreicht, war der Freund damals schier depressiv geworden. Nun der Befreiungsschlag: Überlichtgeschwindigkeit ist möglich. Und weil Quergedanken Nr. 81die Erde in Relation zum Gesamtuniversum steht wie der Bruchteil eines Sandkorns zur Wüste Gobi, erlauben ein paar überlichtschnelle europäische Neutrinos den Schluss: Im großen Weltraum draußen reisen klügere Völkerschaften als wir längst per Überlicht-Bus zum Urlaub unter fernen Sonnen. Und wer hätte daran die größte Freude? Struwwelkopf Einstein – wissend, dass alles relativ ist, also auch seine eigene Gescheitheit.

So sucht Walter nun am Nachthimmel nach einer Mitfahrgelegenheit quer durch die Galaxis. Doch Vorsicht, mein Freund: Der Himmel ist nicht, was er uns Menschen scheint. Die meisten Triebkräfte dort droben sind für uns unsichtbar und jagen das Universum mit einem derartigen Tempo  auseinander, dass bald (nur ein paar Milliarden Jahre) selbst Überlichtverbindungen nutzlos würden. Für diese Erkenntnis gab‘s eben den Physik-Nobelpreis. Walter aber winkt gelassen ab: „Siehe Albert.“ 

Quergedanken Nr. 80

Sagen die Fachleute: Was die Börse bewegt, sind Ahnungen, Ängste, Süchte. Psychologie sei die Haupttriebfeder fürs Handeln der Börsianer respektive ihrer geheimnisvollen Auftraggeber, genannt Anleger. Schließt man vom Erscheinungsbild der Börse in jüngerer Zeit auf die Psyche besagter Akteure, fragt sich der Laie: Wieso gibt es in dieser Anstalt keine Therapeuten und Aufsichtspersonen, um die regelmäßig außer Rand und Band geratenden Irren dort wenn nicht zu heilen, so wenigstens von gemeingefährlicher Randale abzuhalten?

Mehr noch: Wie kann es sein, dass man derart labilen Patienten die Weltfinanzen, ja selbst  die Richtliniengewalt für Staats- und Gesellschaftspolitik überlässt? In welche Zustände zwischen Euphorie und Depression die Insassen der Anstalt sich auch immer steigern: Sie genießen Narrenfreiheit, und die Politik spendiert treulich zu jedem ihrer Feixtänze die Musike. Noch mehr: Die uralte Frage, ob die Verrückten verrückt seien oder eher die „normale“ Welt, ist zugunsten der Irren entschieden. Anders lässt sich kaum erklären, dass jetzt sämtliche über Jahrtausende entwickelten Weisheiten, Werte, Qualitäten, Ziele des menschlichen Lebens verdrängt werden durch die höchste Norm des börsianischen Irrenhauses: Der Zweck allen Daseins ist das Wachstum der Finanzrendite.

Als Manfred Krug vor Jahren warb, Hinz und Kunz mögen ihre Spargroschen in die Telekom stecken, beschlossen Walter und ich: Hätten wir Geld übrig, wir würden es nie in Aktien anlegen. „Stell Dir vor, die Kollegen bei der Telekom streiken für mehr Lohn oder gegen Entlassungen. Dann müsstest du als Aktienbesitzer die Daumen drücken, dass sie verlieren. Wie furchtbar.“ So hatte Walter unseren Anschluss an die Mehrheit der Nichtaktienbesitzer begründet. 90 Prozent sind das heute in Deutschland. Für die übrigen 10 Prozent nudeln die Medien endlos das Innenleben der Finanzmärkte durch. Blöd nur, dass auch unsereins sich für den unsagbar drögen Stoff interessieren muss. Denn die Irren hauen nicht nur die eigenen Köpfe an die Wand. Wenn ihnen keiner Einhalt gebietet, verheizen sie noch die Staatskasse, ja selbst mein kleines Genossenschaftssparbuch.

Aber wer sollte Einhalt gebieten – wo doch das Gefühl fürs Lebenswerte aus den Hirnen gewaschen und durch Geldsucht ersetzt ist? Kindheit, Schule, Freizeit, Kultur, Natur...: Nichts gilt mehr als Zweck an sich, alles nur noch als sinnvoll, sofern es am Ende Geld anschafft. Walter fährt ein aktuelles lokales Beispiel auf, wie weit es damit gekommen ist: „Die Koblenzer Sozialdemokratie lässt sich von einem königlich-preußischen Gartenbaudirektor links überholen. Denn während jener Herr Lenné schon im 19. Jahrhundert quer durchs Rheinland eintrittsfreie Bürger- und Volksparks schuf, plädieren hiesige Sozis im 21. Jahrhundert dafür, dem Volk Eintritt abzuknöpfen, wenn es nach der BUGA durch den Schlosspark seiner Stadt spazieren will.“

Es müsste doch gerade für Sozialdemokraten zu begreifen sein, was selbst Augusta, Gemahlin von „Kartätschenprinz“ Wilhelm I., begriffen hatte: „Es soll dem Volke geboten werden ein Aufenthalt außerhalb der kleinen Wohnung und des Wirtshauses: reine Luft in jenem Sinne, auf dass die gottgesegnete Gegend auch diese Menschen zu erhöhtem und warmem Daseinsgefühle erhöbe.“ Also, liebe Freunde von der SPD Koblenz: Die Fürsten sind weg, gebt uns nun ihren Garten als freien Volkspark! Bebel will es.

Quergedanken Nr. 79

Treue Leser dieser Kolumne wissen: Bett und Schreibtisch des Autors stehen im dörflich-westerwäldischen Vorfeld von Koblenz. Dort pflegt er den Tag frühmorgens mit einem anderthalbstündigen Marsch durch den nahen Wald zu beginnen. Was so vom Arbeitstag vorne abgeht, ist hinten dranzuhängen – denn die Arbeitszeit zwecks Lebensfreude einfach zu verkürzen, würde der Kapitalismus selbst dem „Freischaffenden“ nicht straflos durchgehen lassen.

„Durch die Wälder kann man noch gehen, als gehörten sie niemand“, meint Martin Walser in seinem jüngsten Roman. Dieser Satz beschreibt mein Morgenempfinden trefflich. Zu diesem Freiheitsgefühl gesellt sich in dem von mir genutzten Waldstück das Glück, dort während der zehn Monate von November bis August kaum je einem Menschen zu begegnen. Touristiktrommler faseln von „unberührter Natur“. Was Quatsch ist, weil auch diesen Wald Jahrhunderte forstlicher Bewirtschaftung geformt haben. Aber die Marketingfuzzis würden zu gerne „diese Oase der Ruhe“ mit auswärtigen Ruhesuchern fluten.

Für September und Oktober ist ihnen das bereits gelungen. Wie? Vor einigen Jahren hat  irgendein Depp in ein Wanderbuch hineingeschrieben, dass just dieses Waldstück ein “Eldorado für Steinpilz-Sammler“ sei. Das ist maßlos übertrieben! Schon vor 30 Jahren war es selbst für einen, der die versteckten Pilzstellen hier kannte, meist recht mühsam, eine richtige Steinpilzmahlzeit für drei Personen zu ersammeln. Dennoch hat jenes Geschreibsel dazu geführt, dass nun jedes Jahr acht Herbstwochen lang in allen Waldwegen Autos von überall her stehen.

Has‘, Reh, Wildschwein und meine Wenigkeit werden dann allweil von durchs Gebüsch brechenden zweibeinigen Pilzschnüfflern erschreckt. Etliche sichtlich frustriert: Sie hatten dem gedruckten Wort geglaubt und auf leichte reiche Beute gehofft. Nun stehen sie mit nur ein paar drittklassigen Schwammerln im riesigen Korb betröppelt vor einem und gieren nach Auskunft, wo denn hier das versprochene Steinpilz-Paradies zu finden sei. Nicht erfreut, aber stets freundlich, gebe ich Auskunft.

„Liebe Leser, hier spricht Walter. Ich muss das mal präzisieren, das mit der Freundlichkeit unseres Waldschrats gegenüber Pilzsuchern von auswärts. Weil er ein ach so gutmütiger Mensch ist, gibt er in der Tat freundlichst Antwort – und schickt die Fragesteller auf stundenlange Wanderschaft in eine Richtung, wo vielleicht der Pfeffer wächst, aber nie und nimmer auch nur ein einziger Steinpilz.“ Muss ich zugeben, stimmt. Es ist aber auch gar zu arg, welche Massaker viele dieser Banausen an den Pilzpopulationen verüben, so sie welche finden. Da wird rausgerissen, leergeräumt und noch das winzigste Pilzbaby abgeschnippelt. Das hält auf Dauer kein Bestand durch.

Wenn die Herrschaften wenigsten nahe der Fundstellen ihre Pilze putzen würden. Im Wald tragen die Abfälle zur Bestandspflege bei, daheim im Mülleimer nutzen sie gar nichts. Lieber Walter: Du willst die Fischfangfabriken aus den Meeren und die Agrarindustrie von den Äckern jagen. Recht so. Aber was tun mit netten Mitmenschen, die sich sogar etwas Naturliebe erhalten haben, aber bei der Jagd nach Pilzen unbedacht doch zu Vandalen werden? Meine sanfte Wegweisung schenkt ihnen eine schöne Lebenserfahrung, resultierend aus einer herrlichen Waldwanderung mitsamt einzigartigen Ausblicken auf die bodennahe Fauna und Flora.

Quergedanken Nr. 78

Es hat etwas Knatsch gegeben mit Walter wegen des Themas für diese Quergedanken. Der Freund wollte partout, dass ich eine Volksbewegung pro Energiesparen herbeischreibe. Seine Begründung: „Wenn die Leute nicht anfangen, auch privat kräftig Strom, Sprit, Öl, Gas zu sparen, können wir die Energiewende vergessen. Die Politik tut, als könne die Prasserei einfach weitergehen. Dabei ist Senkung des Verbrauchs nicht nur eine Bedingung fürs Gelingen des Umstiegs, sondern einer seiner edelsten Zwecke.“ Da hat er recht. Und tatsächlich spielt Energiesparen im Wendeplan der Regierung seltsamerweise nur eine Minirolle. Genau hingeschaut, kann man fast den Eindruck gewinnen: Die wollen gar nicht sparen. Das könnte sich als kalkulierte Hintertür erweisen, beim kleinsten Wackler irgendwo im Stromnetz den Atomausstieg wieder madig zu machen.

Trotzdem brennt mir diesmal ein anderes Thema auf den Nägeln: Panzer. 200 Leopard des neuesten Typs von Krauss-Maffei für Saudi-Arabien. Das ist ein Skandal, der mich zur Weißglut bringt. Um des Profits willen Geschäfte mit Tötungsmaschinen zu machen, ist – war immer – per se die erste Sauerei. Gegen alle bisherigen Grundsätze jetzt deutsche Waffen in ein Krisengebiet zu verkümmeln, ist die zweite Sauerei. Mitten im arabischen Freiheitsaufbruch eines der autoritärsten Regime dort massiv aufzurüsten, ist die dritte, noch größere Sauerei. Da spendet Berlin mit dem Mundwerk den Revolutionären Beifall, während es zugleich mit dem Hintern den Reaktionären die Kanonen rüberschiebt, die Volksaufstände niederzukartätschen. Widerwärtig, das!

Vierte Sauerei: Der Leopard-Deal wird als Stärkung eines geostrategischen Partners deutscher Außenpolitik gerechtfertigt. Wirklich schlimm daran ist: Das stimmt neuerdings sogar. Die 200 Panzer für die Saudis sind Beleg dafür, dass die Außen- und Militärpolitik Deutschlands nunmehr die Nachkriegszeit abgeschlossen hat – und das Land ins imperiale Machtspiel zurückführt. Damit werden Ethik und Moral automatisch zur Verschiebemasse im Dienste einer militarisierten  Staatsräson, damit verkommt der Friedensauftrag der Verfassung zur Hure verlogener Sachzwänge a la „Deutschlands Freiheit wird am Hindukusch verteidigt“.

Joschka Fischers Befehl für den Kosovo-Einsatz hatte den Kruppstahladler vom Staube befreit, das Afghanistan-Mandat hat ihn die Flügel spreizen lassen, die Wehrreform von Guttenberg/de Maiziere macht ihn vollends flugtauglich. Jetzt fliegt er wieder. „Landesverteidigung“ gilt bloß noch als alter Hut, bundesrepublikanische Nostalgie, lächerlich; so lachhaft wie die Vorstellung von einer Bundesbahn oder Bundespost als Nonprofitcenter im Dienste des Gemeinwohls. Das neue Deutschland will unbedingt mit den größten Globalhunden pissen. Das klingt dann so: Wer weltweit Geschäfte macht, der muss auch weltweit Verantwortung übernehmen, und deshalb Soldaten in alle Welt schicken, um weltweit für Ordnung zu sorgen.

Frage: Für welche Ordnung in wessen Interesse sollen junge Männer und Frauen von hier rund um den Erdball die Rübe hinhalten? Für Fortschritt, Zivilisation, Freiheit? Das war schon die Lüge von gestern und vorgestern. Wir glaubten sie überwunden, jetzt ist sie in neuem Outfit wieder da –  verseucht schleichend unsere Köpfe, bis wir imperiale Großmannssucht für einen quasi natürlichen  Bestandteil bundesdeutscher Modernität halten. Deutsche Säbel rasseln wieder: hurra, hurra, hurraaaaaargh!

Quergedanken Nr. 77

In Koblenz ist ein seltsames Phänomen zu beobachten: Ein sonst sehr verlässlicher Reflex funktioniert nicht mehr. Gemeinhin reagieren Deutsche ja mit Antipathie, wenn moderne Architektur in schöne Landschaft oder in historische Baustrukturen gesetzt wird. „Verschandelung“ heißt es dann reflexartig – oft ungeachtet, ob es sich bei den neuzeitlichen Bauten um hochwertige Architektur oder profane Nichtswürdigkeit handelt. Ein Rätsel ist mir deshalb: Warum fühlt sich das ästhetische Volksempfinden in Koblenz von der Seilbahn zwischen Deutschem Eck und Festung Ehrenbreitstein nicht gestört?

Ich will das keineswegs groß kritisieren, sondern bloß die Frage zu bedenken geben. Immerhin ist  hier einer der ehrwürdigsten Kulturlandschaften Deutschlands so ein Ding aus Stahl und Plastik übergestülpt worden. Doch nur wenige nehmen Anstoß daran. Selbst ein Vertreter des UNESCO-Welterbekomitees rollte jüngst wie Oma Elfriede aus Pusemuckel bloß verzückt die Augen. Beim Anblick der Schwebegondeln vergaß der Herr, dass er kein x-beliebiger Tourist ist, sondern als Wahrer des Kulturerbes der Menschheit noch ein paar andere Faktoren bedenken müsste. Mag sein, er fühlte sich wegen des vorläufigen Verzichts auf die Loreley-Brücke so beschwingt wie jener Bauer, der seine Kuh erfolgreich handelte.

Zugegeben, für Besucher von auswärts ist die Seilbahnfahrt ein nettes Erlebnis, für Einheimische eine praktisch-flotte Verbindung und anfangs auch interessante Art, heimische Umgebung zu erfahren. Weshalb ich mich freue, dass es die Bahn während der Bundesgartenschau (BUGA) und nachher noch eine kleine Weile gibt. Doch der Reiz des Neuen verfliegt. Und ob „praktisch-flott“ ein hinreichender Grund ist, dieses Vehikel auf ewig über das Rhein-Mosel-Eck herrschen zu lassen, wird man wohl fragen dürfen.

Dass es sich bei Gondeln, Pfeilern und Stationen um Architektur von künstlerisch hohem Wert handelt, kann ernsthaft niemand behaupten. Dass die Talstation zum historischen Panorama aus St. Kastor, Deutschherrenhaus und Deutschem Eck passt wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge, kann jeder sehen, der die Augen aufmacht, statt sie nur verzückt zu rollen. Vielleicht klärt sich die Sicht  etwas, wenn im Herbst die Blätter fallen und das Ensemble sich wieder ein halbes Jahr splitterfasernackisch präsentiert.

„Ach was“, knurrt Freund Walter: „Je länger der Seil-Kram da steht und schwebt, umso mehr gewöhnt man sich daran. Es haben jetzt schon viele Leute kaum noch eine Vorstellung, wie es hier ohne Seilbahn aussah und aussehen könnte. Nach einer Betriebsverlängerung vielleicht bis 2015 erinnert sich außer ein paar Denkmalpflegern, Heimatkundlern und Kunsthistorikern kein Mensch mehr, was den eigentlichen Charakter des Rhein-Mosel-Ecks mal ausgemacht hat.“

Walter ist frustriert. Er sieht zu viele Kräfte am Werk, die offen oder klammheimlich mit strategischer Raffinesse auf die Seilbahn als Dauereinrichtung hinarbeiten. „Praktisch-flott und obendrein eine Touristenattraktion: Damit wird das Ding zum vermeintlich alternativlosen Strukturelement wie Autobahn oder Gewerbegebiet. Vielleicht ist das der Grund, warum in diesem Fall der volkstümliche Reflex gegen moderne Architektur in altehrwürdiger Umgebung nicht funktioniert. Denn wer gewinnt, wenn Mobilitätsfreuden und Wachstumsversprechen gegen Kulturerbe antreten?  Autobahn und Gewerbegebiet – mögen sie die Welt auch noch so sehr verschandeln.“ 

Quergedanken Nr. 76

Sprechen wir mal über Autos. Da kann jeder mitreden. Schließlich sind in Deutschland 42 Millionen PKW zugelassen. Statistisch kommt auf jeden Haushalt einer. Also ist der Benzinpreis Aufreger an allen Tischen. Nur Freund Walter lässt das Thema kalt. Nicht, dass er kein Auto hätte. Aber er hat sich vor Jahren, als normales Super 1,14 Euro kostete, vom Spritpreis unabhängig gemacht. Er folgt der Weisheit eines ollen Witzes und tankt seither pro Woche für maximal 50 Euro. Mehr brauchte er damals nicht, weil er öfter per Muskelkraft oder im Zug unterwegs war. Und was er heute für die 50 Euro an Sprit kriegt, reicht ihm noch immer – für fast die gleiche Kilometerzahl wie ehedem.

Wie das geht? Walters Prinzip lautet: „Steigt der Benzinpreis, gehe ich mit dem Verbrauch pro Kilometer runter.“ 8,9 Liter hatte er mit seinem Mittelklässer auf 100 Kilometer anfangs verheizt. Bis 2007 stand er mit demselben Auto dank radikal veränderter Fahrweise bei 6,5 Litern. Dann wurde eine neue Karre fällig. Der Freund verstieß beim Kauf gegen deutsche Leitkultur: Er stieg auf ein kleineres Modell um. Normal ist, dass man sich mit fortschreitendem Alter immer größere Autos zulegt – heute vorzugsweise für 30 000 Euro aufwärts. Weshalb auf den Straßen jetzt Vehikel zuhauf kreuzen, die nach Motorisierung, Gewicht, Größe für sechsköpfige Familien ausgelegt sind oder Staatskarossen ähneln, neuerdings vermehrt auch Kampfpanzern.

Drinnen hocken aber meist nur ein oder zwei Menschlein, wegen deren Komplexen Monsterkraftwerke auf Rädern bewegt werden. Niemand braucht solche Protze von Autos wirklich. Doch wenn‘s um den motorisierten Status geht, trübt selbst bei sonst vernünftigen Mitbürgern irgendein Mysterium das Hirn. Leider ist auch die Krone der Schöpfung, die Frau, davor nicht gefeit: Da entsteigen 55 zierliche Kilo Schönheit zwei Tonnen blecherner Wuchtbrumme, und du denkst betrübt: Wieder frisst eine Revolution ihre Kinder - diesmal ist's die Frauenemanzipation.

Walter ist mit seinem neuen Kleinen nebst vernünftiger, entspannter Fahrweise inzwischen bei 5 Litern pro 100 Kilometer gelandet. Und das ganz ohne teuren Technikfirlefanz wie Start-Stop-Automatik, Eco-Tempo-Managment, Schalt-Optimierungs-System etc. Etwas kleineres Auto; vorausschauendes Fahren mit großem Gang; rollen lassen, wo immer möglich; so wenig bremsen wie irgend vertretbar; 120 km/h Idealgeschwingkeit auf Autobahnen... Mit Klugheit und Gemütlichkeit drückte der Freund seinen Verbrauch also von 8,9 auf 5 Liter während zeitgleich der Spritpreis von 1,14 auf 1,58 Euro stieg. Vorteil Walter!

Einwand: Aber der Zeit-, Komfort- und Sicherheitsverlust?! Antwort: Was soll komfortabel sein an einem Auto, das ins Parkhaus nur passt, wenn links und rechts keiner steht? Was soll sicher sein an einer Karre mit Digitalorgel und Mäusekino, in der man nicht merkt, wenn man 200 Sachen drauf hat? Und der Zeitfaktor ist minimal, das habe ich bei normal-dicht befahrener A3 mehrfach getestet. Der Unterschied zwischen gelassen durchgehaltenen 120 km/h und mit nervöser Vollgas-Abbrems-Fahrt vergeblich versuchten 180 km/h liegt bei kaum 5 Minuten pro 100 Kilometer.

Sonst noch was? Ja, Walters Gruß an alle, die vom Tanz ums heilige Blechle nicht lassen können:  „Wenn demnächst in Asien, Afrika, Lateinamerika zwei Milliarden zusätzliche Autos auf die Straßen kommen, werdet ihr froh sein, noch ein bisschen Benzin für fünf Euro den Liter zu kriegen.“

Quergedanken Nr. 75

„Schwärmen ist jetzt Bürgerpflicht am Mittelrhein“, kommentiert Freund Walter Eindrücke von den ersten Tagen der Bundesgartenschau (BUGA) Koblenz. Fassungslos steht er vor dem Phänomen, dass die Hiesigen fast sämtlich auf Wolke sieben zu schweben scheinen – wes‘ Partei, Standes oder Alters sie auch seien. Wo ist die Skepsis geblieben? Selbst stadtbekannte Beckmesser säuseln: „Ach, wie schön ist alles geworden“. Dazu klang das Loreley-Lied bei der Eröffnung im BUGA-Arrangement wie von Heine‘scher Schicksalhaftigkeit befreit und für beschwingte Stunden im Weißen Rössl notiert.

Mich wundert die allgemeine Enthusiasmierung weniger, denn ich erlebe nun schon die zweite Bundesgartenschau als quasi Einheimischer. 1975 in Mannheim war‘s nicht anders. Nach jahrelangem Zeter und Mordio herrschte plötzlich Friede-Freude-Eierkuchen am Rhein-Neckar-Eck. Dem damaligen Primaner kamen seine Monnemer seltsam vor, wenn sie glückselig grienend aus Luisen- und Herzogenriedpark heimkehrten. Schülerkreise mutmaßten, die Verpflegung dort hätten wohl die sonst im benachbarten Heidelberg ansässigen Vertreiber afghanischer Rauchware übernommen.

Wie dem auch war. Jedenfalls verfolgten in Mannheim anno 75 selbst vordem verbissene Gartenschaugegner bald mit Stolz geschwellter Brust die verlautbarten Besucherzahlen: Auf mehr als acht (!) Millionen summierten sie sich. Journalisten-Kollegen in Schwerin und Gera  schmunzeln jetzt über das Koblenzer Begeisterungsphänomen: „War bei unseren Bundesgartenschauen (2009, 2007) ähnlich. Keine Bange, das legt sich.“  Die Leute seien halt stolz, dass ihre kleine Stadt sowas überhaupt auf die Beine kriegt. „Entflammter Lokalpatriotismus ist wie Fan-Begeisterung: Bringt Rosarot-Sicht mit kollektivem Wonneeffekt hervor.“

Um nicht missverstanden zu werden: Ich will hier weder den Mittelrheinern die Hochstimmung vermiesen, noch die BUGA selbst madig machen. Ich will nur darauf hinweisen, dass wir allesamt –  Autor inklusive – im Augenblick wohl nicht ganz normal ticken. Was mit Blick auf die Erfahrungen früherer Gartenbaustädte als durchaus gewöhnliches und ungefährliches Symptom gelten darf. Interessanterweise ist nicht die Gestaltung der BUGA selbst Ursache für solche Verrücktheit. Denn die Begeisterung war schon explodiert, als die Koblenzer Inszenierung noch in den nichtöffentlichen Proben steckte. Die Ovationen nach der Premiere bestätigen nicht zuletzt eigene Erwartungen.

Erlauben Sie, verehrte Leserschaft, folgenden Erklärungsversuch: Die Aussicht auf das so ungewohnte Ereignis am Rhein ließ uns die alten Geister der Romantik zu Kopfe steigen. Angesichts der allfälligen Lebensprägung durch kaltes Geldgeschäft sind wir gepackt von der Sehnsucht nach der „blauen Blume“. „Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben; fern ab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn’ ich mich zu erblicken“, schrieb dereinst Novalis. Die Blume, die der Schwärmer meinte, ist ein Hirngespinst. Und doch geistert sie durch die Welt als Symbol unausrottbaren Sehnens nach einem Leben in Frieden, Schönheit und Harmonie mit der Natur.

Walter schlägt die Hände überm Kopf zusammen: „Die BUGA lässt zehn Divisionen Tulpen nach preußischem Exerzierreglement zum Blühen antreten. Und das soll neoromantische Humansehnsucht beflügeln? Du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank!“ Sag ich doch.    
      

Quergedanken Nr. 74

Geplant waren an dieser Stelle eigentlich launige Sätze zur gespannten Erwartung, mit der die Mittelrheinischen dem Start der Bundesgartenschau Koblenz am 15. April entgegenfiebern. Doch nun entstehen diese Zeilen am Tag 8 der Japan-Katastrophe, und mir ist die Lust an Launigkeit vergangen. Die Leserschaft wird Verständnis haben. Mir ist auch die Geduld abhanden gekommen, in gepflegter Ruhe mit AKW-Fans zu diskutieren. Wer jetzt nicht sieht, was Sache ist, der will nicht sehen, will bloß glauben. Technikgläubigkeit ist wie religiöser Fanatismus. Allmachtsfantasterei. Deutsche AKWs seien sicher, weil es hier keine Tsunamis gäbe. Nichts begriffen!

Genug. Es gibt eine Zeit zum Reden und eine zum Handeln. Jetzt ist die Zeit des Handelns. „Bundesregierung und Atomwirtschaft handeln doch, lernen um“, tönt es allseits. Ach was: Die Krokodile weinen. Ich glaube ihnen kein Wort. Sie tricksen. Um zu retten, was zu retten ist – an Macht, Einfluss, Profit. „Deine Rede sei ja, ja und nein, nein“ heißt es biblisch. Ich höre nur „blub, blub, blub“. Dieser Blub meint: Zeit gewinnen, Nebelkerzen werfen, Beruhigungspillen ans blöde Volk verteilen. Dazu jaulen die Bedenkenträger: „Rascher Atomausstieg kostet Milliarden, der Strompreis explodiert, die Lichter gehen aus.“

230 Milliarden Euro würde Deutschland ein Totalausstieg bis 2020 kosten, hat einer ausgerechnet. Na und?! So viel kostete die japanische Atomkatastrophe (ohne die übrigen Beben- und Tsunami-Schäden) in der ersten Woche. Freilich werden die Strompreise explodieren – solange die Oligarchen von RWE und Co. nach Belieben Rahm abschöpfen. Dem könnte Einhalt geboten werden, politischen Willen vorausgesetzt. Die Lichter gehen keineswegs aus – sofern nicht ein AKW-GAU Teile des Netzes sprengt. Sieben deutsche Meiler sind jetzt abgeschaltet, und nichtmal die Glühbirnen flackern.

Selbst wenn der Strom gelegentlich für eine Stunde wegbliebe, selbst wenn der Strompreis um 20 Prozent stiege: Wollten wir wegen solcher Wohlstands-Petitessen alles aufs Spiel setzen,  Gesundheit, Leben, Umwelt, Zukunft der Kinder? Was wären ein paar Unannehmlichkeiten gegen das Grauen des entfesselten Restrisikos. Ja, ja, ich höre den Spott, das Gemaule, die Anfeindungen, dies sei modisches Endzeitgejammer, gar Agitation mittels japanischer Opfer. Pardon, den aktuellen Horrorbeweis für die reale Unbeherrschbarkeit des Restrisikos habe nicht ich angezettelt, den erbringen die AKWs selbst.

Es ist bitter genug, 25 Jahre nach Tschernobyl schon wieder Recht behalten zu haben. Aber soll ich mich dafür schämen? Schämen müssten sich die Offiziellen, die jetzt tun, als sei erst mit der japanischen Katastrophe das Gefahrenpotenzial der Atomkraft erkennbar geworden. Verlogene Bagage. Sie wissen es seit Jahrzehnten, doch bei der „Risikoabwägung“ ging Profit stets vor. Schluss damit!  Deshalb: Jetzt handeln, Druck aufbauen. Jeder auf seine Weise: zu Öko-Stromanbietern wechseln; demonstrieren, wieder und wieder, gerade während des Moratoriums; auf dem Wahlzettel protestieren. Dazu dies: Auch sehr viele CDU- und FDP-Mitglieder sind für den Ausstieg;  liebe Leute, macht euren Oberen Dampf.

Und keine Bange: Es geht, wir können die AKWs abschalten, alle, zeitnah. Deutschland baut angeblich die besten Autos und Maschinen der Welt. Bei solchen Potenzialen kriegen wir es ganz sicher hin, lächerliche 20 Prozent Atomstrom klug zu ersetzen. Das wäre mal eine globale Vorreiterrolle, für die zu schwitzen sich wirklich lohnt.

Quergedanken Nr. 73

Lasst euch nicht weismachen, Weltgeschichte würde von Königen, Kanzlern/innen oder sonstigen Großhelden geschrieben. Die schreiben bloß Geschichtchen. Am wirklichen Historienrad dreht die Vereinigung von Hinz und Kunz, dreht „die Straße“: 1789 Frankreich, 1832/1848 Baden und Pfalz, 1917 Russland, 1980 Polen (Solidarnosc), 1989 Deutschland, 2011 Maghreb/Arabien. Manchmal träumt einem jetzt nachts, vor den Börsen würde noch zu eigener Lebzeit millionenfach die ägyptische Weise gesungen: „Haut ab!“

Lasst euch nicht weismachen, wer regenerative Energien wolle, der müsse nun selbstverständlich Masten für Überlandleitungen in Vorgärten und auf Spielplätzen dulden, Stromtrassen quer durch Wohn- und Naturschutzgebiete hinnehmen. Unfug! Dass ein neues Kabelnetz her muss, enthebt die Erbauer doch nicht der Pflicht, natur- und sozialverträglich zu bauen. Das geht, wenn man will – und sich die Trassenführung nicht von den Energiemogulen diktieren lässt.

Lasst euch  nicht weismachen, die beste Alternative zum Benzin aus Erdöl sei der „Biosprit“ von zweckentfremdeten Kartoffel-, Weizen-, Reisfeldern. Oder sollte am Ende der Gipfel zivilisatorischer Entwicklung tatsächlich darin bestehen, dass die motorisierten Blechprotze den Menschen das Brot wegfressen?

Lasst euch nicht weismachen, dass für Stuttgart 21, für das Superschnell-Intercity-Netz, für den Börsengang der Bahn eintreten müsse, wer im Schienenverkehr die Zukunft sehe. Ich bin fest davon überzeugt, dass es zum Ausbau der Eisenbahn keine Alternative gibt. Die Deutsche Bahn AG ist das offenbar nicht. Sonst würde sie ihre Milliarden in eine Infrastruktur investieren, die möglichst viele Güter und Menschen von der Straße holt – statt sie in einem schwachsinnigen Luxuswettkampf mit Flugzeugen um ein paar eilige Geschäftsreisende zu verpulvern.

Lasst euch nicht weismachen, „Chancengleichheit“ sei das bestmögliche Ideal sozialen Strebens. Beim Lotto herrscht Chancengleichheit; jeder hat die Chance auf einen Haupttreffer. Was aber ist das Ende vom Lottolied? Eine 99-prozentige Mehrheit geht leer aus. Jeder Tellerwäscher könne bei Chancengleichheit Millionär werden, heißt es. Was‘n Quatsch. Würden alle Tellerwäscher ihre Chance ergreifen wollen, wäre keiner mehr da, aus dessen Arbeit man die Millionen quetschen könnte. Ne, ne: Chancengleichheit vergrößert bloß die Zahl der Wettbewerber, die sich wegen einer gleichbleibenden Siegprämie gegenseitig die Fresse polieren. Ein blödes Ideal.

Lasst euch nicht weismachen, mit einer Quote für die Chefetagen der Wirtschaft stehe oder falle die Frauenemanzipation. Ob Ackermann und Konsorten Herren oder Herrinnen sind, kann uns wurscht sein. So wie es keinen Unterschied macht, ob die Regierung unter Mutti Angela, Freiherr "Dr." Gutti oder Erzengel Gabriel nicht dafür sorgt, dass Frauen und Männern gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt wird.

Nun will auch Freund Walter noch seinen Senf dazu geben: „Und lasst euch nicht weismachen, es sei Sabotage am Aufschwung, wenn Mann und Frau zwischen Schwerdonnerstag und Aschermittwoch die Arbeitsnormen weniger interessieren als Jubilieren und Verlustieren. Helolaulaaf!“

Quergedanken Nr. 72

Der 13. Januar 2011 wird den deutschen Kolumnisten (bloß nicht verwechseln mit Kommunisten!) als historischer Tag erinnerlich bleiben: Dem verehrungswürdigen, allweil gelassenen Kollegen Harald Martenstein („Zeit-Magazin“) war der Kragen geplatzt. Nie hatte er sich bis dahin mit Politik abgeben wollen. Doch bei der Zeitungslektüre zum diesmaligen Jahreswechsel führte ihn die Betrachtung angekündigter Preis- und Abgabenerhöhungen zur ultimativen Frage: „Bin ich krank im Kopf, oder ist das System krank?“ Martenstein kapierte noch, warum die Krankenkassenbeiträge steigen. Dass aber zum steigenden Beitrag obendrein ein Zusatzbeitrag erhoben wird, an dieser Logik verzweifelte der sonst so kluge Kopf. Ebenso daran, dass die Benzinteuerung begründet wurde mit der Einführung einer neuen Benzinsorte, die „Gras oder Kuhdung enthält“.

Wie meinte mein Freund Walter nach der „Zeit“-Lektüre: „Er kann einem leid tun, der Harald. Denn es wird ihm nun gehen wie dir: Erstmal den kleinen Finger ins realpolitische Dornengestrüpp gesteckt, verfängt er sich gleich heillos darin. Den geplatzten Kragen kriegt er so bald nicht wieder zu.“ Tatsächlich legte Martenstein eine Woche später schon ein „politisches Manifest“ mit radikalen Forderungen an Parteien und Regierung nach. Darunter diese: Es soll nicht alles immer komplizierter, schneller, glatter werden. Oder diese: Wenn etwas funktioniert, muss es nicht geändert werden. Oder diese: „Die Regierung soll mir das Gefühl geben, dass sie mich für intelligent hält, nicht für dumm.“

Ja, die Verlockung ist groß, die für querulierlustige Spitzfedern vom hanebüchenen Politgeschäft  ausgeht. Da entdeckt die Verkehrspolitik urplötzlich, dass sie „Börsengang“ jahrelang   fälschlicherweise  für eine schienentaugliche Fortbewegungsart gehalten hatte. Nun soll bei der Deutschen Bahn, angeblich, für viel Geld wieder repariert werden, was über Jahrzehnte autohörig und börsengängig an Eisenbahn-Infrastruktur zerdeppert wurde. Ein nicht minder grandioser Stoff für Kolumnisten steckt in der Dioxin-Eierei. Was hat er sich aufgeregt, der Hering aus Hachenburg, der in Mainz den Wirtschaftsminister gibt: Es sei absurd, dass jetzt die Futtermittelindustrie nach staatlichen Vorschriften ruft, wo doch die Industrie in der Pflicht stünde, für Ordnung zu sorgen.

Werter Herr Minister: So naiv dürfen Weinköniginnen oder kleine Brüder sein, aber doch keine gestandenen Sozialdemokraten. Würden Letztere ihre Klassiker lesen, sie wüssten, dass der Glaube an Selbstregulation des Kapitals ein sehr ungesundes Opiat ist. Denn: Für ein paar Prozent Extraprofit begeht der Kapitalismus, wenn man ihn lässt, jede Sauerei. Dies Faktum beschrieb ein rauschebärtiger Sozi aus Trier schon vor 160 Jahren. Die Betonung liegt auf „wenn man ihn lässt“. Ihn nicht zu lassen, dabei steht nun mal primär die Politikerzunft in der Pflicht. Oder müssen Wutbürger das übernehmen?

Wenn Martenstein sich jetzt Politik vorknöpf, kann ich mich ja auf Angenehmes kaprizieren. Aushänge eines Koblenzer Ticket-Ladens wecken nostalgische Bedürfnisse: Mal wieder live mit Grönemeyer abrocken oder mit Elton John. Wo treten die auf? Veltins-Arena, Esprit-Arena, Lanxessarena, Rhein-Energie-Stadion, Allianz-Arena, Commerzbank-Stadion... Kenn ich nicht! Will ich nicht! Der öffentliche Raum an den Meistbietenden als Werbeträger verhökert. Demnächst sind Schlösser, Theater, Krankenhäuser, Naturschutzgebiete dran. Audi-A8-Gymnasium, Siemens-Basilika, Bertelsmann-Friedhof, das wär‘s noch. Mir kommt schon wieder die Galle hoch. Bin ich krank, oder ist das System krank?

Quergedanken Nr. 71

Ob es nicht an der Zeit wäre, hier mal wieder etwas über BUGA-Koblenz zu schreiben, fragt ein Leser (für Auswärtige: BUGA = Bundesgartenschau). Nö, eigentlich nicht. Ist doch alles klar: Am 15. April geht die Show los, am 16. Oktober endet sie. Das Ding läuft. Worüber sich vorab noch den Kopf zerbrechen? Dass die Kaninchen am Schloss üble Gesellen sind, weil sie sich an den BUGA-Zwiebeln gütlich tun? Dass im Dezember der Winter hereinbricht und die Bau-Zeitpläne für Europabrücke,  Zentralplatz etc. über den Haufen schmeißt? Ach Gott, Karnickel fressen nunmal Blumenzwiebeln und der Dezember ist hierzulande halt ein Wintermonat. Alle Schulkinder wissen das. Wozu es kommentieren?  

Jedes bepflanzte Beet, jeden verlegten Pflasterstein feiern wie Katar seinen WM-Zuschlag? Man kann es auch übertreiben. Immerhin beobachten wir fasziniert das Phänomen der Befriedung, ja Euphorisierung der Massen. Kein böses Wort mehr gegen die BUGA. Im schlechtesten Fall Gleichgültigkeit, im Regelfall gespannte Erwartung bis Vorfreude, in offiziellen Fällen von Amts wegen enthemmtes Jubilieren. Umleitungen, Sperrungen, Staus, Fußwege als Hindernisparcours und sonstige Unbilden derzeit? Augen zu und durch – man erträgt's als Notwendigkeit auf dem Weg zum großen Ziel. Und tröstet sich damit, dass hernach eine Generation lang Ruhe herrscht: „Weil kein Geld für nix mehr da sein wird“, wie es in den Kneipen rund ums Eck heißt.

Sogar der Kolumnist sieht der BUGA mit Interesse entgegen: Freilich mehr als kulturell-ästhetisches Ereignis denn als Wirtschaftsfördermaßnahme. „Trau dich, schreib's hin!“, stichelt jetzt Freund Walter. Er spielt an auf einen Disput, den wir mit zwei Koblenzer Geschäftsleuten hatten. Thema: Wird der Einzelhandel während der BUGA satte Umsatzzuwächse verbuchen können? Walter hatte zum Verdruss der beiden so beschieden: „Quatsch. Die Besucher haben genug damit zu tun, an einem Tag die BUGA zu verkraften. Die werden müde gelaufen nicht mal eben noch zum Shoppen die Stadt fluten. Höchstens 'ne Tasse Kaffee und 'ne Stulle auf dem Weg zum Bahnhof – das war's dann.“

Der Freund fing sich damit den Vorwurf ein, er wolle die Gartenschau madig machen. Ein ungerechter Vorwurf, herrührend von einer seltsamen Stimmung bei etlichen Koblenzern: Jedes nicht jubelselige Wort über die BUGA wird als Böswilligkeit abgestraft. Mag sein, dass deshalb selbst wohlmeinende Kritiker so schweigsam geworden sind. Hallo, geht’s noch?! Ein bisschen Realitätssinn kann dem Ereignis mehr nützen als manch rauschhaftes Halleluja-Gesinge. Zwei Millionen BUGA-Besucher kommen nun mal partout nicht zum Einkaufen nach Koblenz. Sie kommen wegen der Blumenschau im „weltweit einmaligen kulturhistorischen Ambiente der Rhein-Mosel-Stadt“, würde der neue Koblenzer Oberbürgermeisters in seinem bereits sprichwörtlich werdenden Understatement wohl sagen.

Vielleicht strömen in den Post-BUGA-Jahren mehr Langzeit-Touristen an den Mittelrhein, um  ringsum in Ruhe zu erleben, was sie an ihrem knüppeldichten Gartenschau-Tag 2011 nicht schafften. Und vielleicht gehen dann einige von ihnen auch hier shoppen. Vielleicht … Manches ist möglich, doch wenig sicher und nichts garantiert, was die BUGA-Folgewirkungen angeht. Erfolg oder Misserfolg der Gartenschau nach den 2011er Bilanzen des Handels zu bemessen, wäre indes schräg. So schräg, wie die Wertschätzung fürs UNESCO-Welterbe abhängig zu machen von den Belegzahlen der Hotels am Mittelrhein. Nichts gegen wirtschaftlichen Erfolg, aber noch gibt es auch ein paar Werte und Freuden jenseits der Umsatzziffern.

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