Quergedanken

Quergedanken Nr. 22

Ja, ist denn schon wieder Weihnachten? Lebkuchen und Marzipan stapeln sich seit Oktober in den Läden. Die Straßenbeleuchtung hat putzige Verstärkung bekommen. Die Dauerbeschallung in den Einkaufsmeilen wurde von kaufbelustigendem Fahrtstuhlpop auf kaufberauschende Herzerweichung durch „Kling-Still-Süß-Kindel-Tann-Glöck“ umgerüstet. Seit auf mittelrheinischen Straßen und Plätzen obendrein Brettlbüdlis wieder das Stück „Anno-dunnemals-Markt“ geben und Schwaden vom Glühwein frohes Hirnwinden versprechen, seither steht fest: Weihnachten ist nicht mehr aufzuhalten.
 
Es sei denn ...? Es sei denn, der Stifter des Festes selbst geböte dem Treiben Einhalt: Etwa wegen Verstoßes gegen den ursprünglich der Uneigennützigkeit verpflichteten Stiftungszweck. Doch ER wird –  wie es in nachbiblischer Zeit seine Gewohnheit geworden – auch in diesem Fall nicht eingreifen wollen. Was sollte ER sich auch mit Leuten herumstreiten, die jeden Gerichtspräsidenten am liebsten kreuzigen würden, der nicht jedes Gerichtszimmer mit Kreuzen behängt. Gebt Gott, was Gottes ist und dem Staat, was des Staates. Sagte wer? Vergessen. Gescheit ist´s trotzdem, denn es hält auseinander, was leichtfertig vermengt nach „Gottesstaat“ klänge und zum schlechten Ende womöglich „Gottesurteile“ fällte.

Hierzulande wird im Namen des Volkes, auf Grundlage irdischer Gesetze und (zumindest zumeist) mit klarem Verstand Recht gesprochen. Gott sei Dank! Würde bitte jemand bei Gelegenheit den kurtrierischen Eiferern folgende Schul-Selbstverständlichkeiten erläutern: Dass es, erstens, in dieser Republik keine Staatsreligion gibt. Dass, zweitens, unsere Kultur gleichermaßen auf griechisch-römischer Antike und Judentum und Christentum und europäischer Aufklärung gründet. Dass, drittens, unsere Justiz unabhängig und sowieso kein Rechtsfolgeorgan der vatikanischen Inquisition ist.      

Anderes Weihnachtsthema. Heiligabend fällt heuer auf einen Sonntag. Was die Chance bietet, nochmal  einen richtigen Sonntag zu erleben, einen, an dem das ganze Land für ein paar Stunden wirklich zur Ruhe kommt. Oft wird es das nicht mehr geben. Oder glaubt noch jemand an einen Weihnachtsmann, der die letztendliche Einführung der 7-Tage-rund-um-die-Uhr-Geschäftswoche verhindern würde? Der Feierabend ist schon abgeschafft: die Industrien werkeln ununterbrochen, die Einkaufszentren rumoren bis in die Nacht oder gleich die Nacht durch. Das freie Wochenende ist durchlöchert wie ein Schweizer Käse: Der Samstag bereits Vollarbeitstag, und auch der Sonntag auf dem besten Wege zum 24-Stunden-Werktag. Das soll bald hundsgewöhnliche Normalität sein – ganz ohne Nacht-, Wochenend- und Feiertagszulagen. Sie nennen das Freiheit und Service und Lebensqualität. „Alles Quatsch“, schimpft Walter, „man will uns bloß das Gefühl für Arbeitsruhe und Muße ratzebuzz austreiben. Frag mich jetzt ja nicht nach dem Warum. Selber denken!“

Walter zürnt – über die Blödsinnigkeit im Gang der großen Dinge. Halt Freund, mach nicht so einen Verdruss, schau lieber auf die TuS! Und justament flackert ihm wieder jener seltsame Ausdruck durchs Gesicht, den wir seit der Erfolgsserie der Koblenzer Kicker gegen Köln, Essen und Karlsruhe auf vielen Gesichtern früher ganz bodenständig gewesener Mittelrheiner sehen. Das ist so eine Art aufgesetzter Realismus, hinter dem indes klammheimlich inbrünstiger Hoffnungswahn irrlichtert. Keiner wagt zu sagen, wovon alle träumen: „Es ist zwar völlig ausgeschlossen, aber wir könnten trotzdem – aufsteigen, in die erste Liga.“ Ei, warum nicht? Staatspolitisch zumindest wär´s vernünftig: Wenn jetzt nach den Pfälzer Teufelchen auch noch der 05er Karnevalsverein den Bundesgeist aufgibt, dann muss eben Koblenz die Landesehre retten. Wäre nicht das erste Mal.

Weil Weihnachten ansteht, sei an dieser Stelle noch von einem Wunder gekündet. Sieben europäische Städte (keine deutsche dabei) wollen ihre Verkehrprobleme  auf ausgefallenem Wege lösen: Ampeln abschaffen, Verkehrsschilder um 80 Prozent reduzieren. Vorbild ist das holländische Drachten, wo seit drei Jahren nur noch zwei Verkehrsregeln gelten: rechts vor links, und, wer andere behindert, wird abgeschleppt. Bei allen übrigen Verkehrsfragen müssen die 45 000 Drachtener nebst Besuchern selbst zusehen, wie sie am besten miteinander können. „Anarchie! Chaos!“ kreischt es da den ehemals preußischen Mittelrhein rauf und runter. Jawohl, es herrscht Verkehrs-Anarchie in Drachten: Man winkt, blinkt, wedelt, deutet, nickt mit dem Kopf, ruft, klingelt, hupt auch mal. Das Wunder: Der Verkehr fließt und nirgendwo sonst in Europa gingen die Unfälle so stark zurück wie in Drachten. Das könnte einen doch auf Ideen bringen –  in Koblenz, Neuwied, Mayen, Bad Ems ….   

 

Quergedanken Nr. 21

„Hi, Mister Querdenker, bist Du eigentlich immer oder nur beim Schreiben so mies drauf? Sicher, die Welt ist bekloppt, aber es gibt doch auch noch gute Nachrichten und  Entwicklungen.“ Diese Kritik von Leserin Katharina trifft den Kolumnisten, der sich für ausgesprochen lebensfroh hält, hart. Nichts desto trotz, liebe Katharina, sei die Kritik als Anregung aufgegriffen. Versuchen wir es heute also mit positiven Nachrichten:

Nachdem sie über Jahrzehnte immer wieder angedacht, stets aber aus technischen, finanziellen oder denkmalschützerischen Gründen verworfen wurde, scheint sie nun doch zu kommen –  die Seilbahn vom Deutschen Eck zur Festung Ehrenbreitstein. Wohin alle früheren Hinderungsgründe urplötzlich verschwunden sind, lässt sich so genau zwar nicht nachvollziehen. Aber offenbar gilt die alte Weisheit von Wille und Weg. Deren hiesige  Version geht so: Wo ein Traum ist, findet sich auch ein Steig. Mein Freund Walter brummt skeptisch was von „kriegen die nie hin, und wenn, sind sie den Welterbestatus los“. Walter ist halt ein Gestriger, den Bogen mit dem Positiv-Denken hat er noch nicht raus. Dabei könnte er am Beispiel Rhein-Steig sehen, dass es funktioniert.

Man muss nur wollen, schon geht´s in den Örtchen am rechten Unesco-Rheinufer rund wie in Berchtesgaden zwischen Juni und August: Zünftig berucksackte Leiber aus aller Herren Länder stapfen auf strammen Waden zuhauf umher – morgens munter, abends runder. Hierorts nie gesehene Scharen von Wandersleuten bevölkern die Hänge, lassen in Gasthäusern, Pensionen, Hotels die Kasse klingeln. Und wovon kommt das? Bloß von einem simplen, rohen, unbequemen, anstrengenden Wanderpfad. Der Witz ist: Wäre der Rhein-Steig nicht eine schweißtreibende Schinderei, sondern ein bequemer Spazierweg, der Publikumszuspruch bliebe schlichtweg aus. Den Witz haben noch nicht alle kapiert – weshalb mancher Einheimische auswärtige Wanderer, die nach dem Rhein-Steig Richtung Nachbarort fragen, wohlmeinend auf kürzere und einfachere Wege via Rhein-Promenade oder auf die Eisenbahn verweist. Braucht eben alles seine Zeit.

Das waren doch schon zwei sehr gute Nachrichten von vor der Haustür. Von weiter weg  gibt´s auch welche. Deren Bewertung hängt freilich etwas von der persönlichen Perspektive ab. Im hessischen Dietzenbach hat der Stadtrat einen richtungsweisenden Beschluss zur Förderung der Integration von Kindern mit Migrationshintergrund gefällt: Künftig werden dort im Kindergarten die Deutschlandfahne und ein Porträt vom Bundespräsidenten aufgehängt. Ich möchte diese Initiative aufgreifen und schlage als Fortgeschrittenenprogramm vor: allmorgendliche Fahnenappelle nebst Nationalhymne  und Treueschwur auf die Führer von Partei(en), Staat und Nation.

In Deutschland waren solche Vermittlungspraktiken für patriotische Werte lange Tradition, und andere Länder machen es schließlich heute noch so – China und Nordkorea beispielsweise. Ersteres immerhin ein viel beneideter Globalisierungsgewinner. Letzteres der Grund, nun George W. Bush zu rehabilitieren: Denn der hatte den Irak angegriffen, weil die dort nicht auffindbaren Massenvernichtungswaffen in Nordkorea versteckt worden sind. Das wird jetzt allmählich als großräumige Bush-Strategie für den nah-fernöstlichen Raum deutlich. Uns kleinen Geistern täte halt ein bisschen mehr Vertrauen in die Weitsicht unserer Führer ganz gut. Auch wenn wir nicht immer alles verstehen, was deren überragenden Hirne ausbrüten.

Die jüngst ausgebrochenen „Unterschichtendebatte“ etwa. Liebe Katharina, mir will zwar nicht in den Kopf, warum die Politiker eben erst entdecken und lauthals beschreien, was seit Jahren ein offenes „Geheimnis“ ist: Dass a) die Kluft zwischen Arm und Reich im Land immer größer wird, b) die Zahl der Armen ständig wächst und dass c) ein Job längst keinen Schutz mehr gegen Armut bietet. Mir will auch nicht in Kopf, dass die Herrschaften nicht von Schichten und Unterschichten sprechen mögen, obwohl wir seit jeher und weiterhin in einer Klassengesellschaft leben. Aber sei´s drum, nennen wir halt eine gute Nachricht, dass die Politiker jetzt wenigstens als „neue Armut“ anerkennen, was landauf und –ab als hundsgewöhnliche und sich keineswegs erst neuerdings vermehrende Armut bekannt ist.

Noch ´ne gute Nachricht? Die Energiekonzerne haben soeben eingestanden, dass der Klimawandel tatsächlich stattfindet. Jetzt kann man sich vor ihrem Drängen, eine Energiewende einzuleiten, kaum mehr retten. Für uns am Mittelrhein heißt das: Aufpassen, dass nicht plötzlich der totale Stop verkündet wird – Abrissstop für das Atomkraftwerk Mülheim-Kärlich. Unfug? Hysterie? Nein, nur Lebensfreude angesichts „guter Nachrichten“.

Quergedanken Nr. 20

„Was da mitschwingt, weiß doch kein Mensch mehr“, brummt Freund Walter, als er die Überschrift sieht. Da übertreibt er wohl, denn ein paar gebildete Altlinke wird es ja selbst am Mittelrhein noch geben. Und zumindest die sollten begreifen, dass hier nicht bloß auf den öffentlichen Geheimwunsch der TV-Eva (Herman) angespielt wird, vom Manne wieder als Rippchen aus eigener Zucht angeknabbert, ausgekocht, schließlich abgenagt werden zu wollen. Besagte Altlinke sollten sich an ein Lied von 1865 über einen Typen namens Florian Geyer erinnern. Für alle andern muss, zugegeben, der Schlagzeile Hintersinn erst erhellt werden. Wofür auf das Ende dieser Kolumne verwiesen sei.

So ist das eben in der Kunst: Wer von kulturgeschichtlichen Kontexten nichts weiß, hält im Angesicht der  Meisterwerke aus Malerei, Musik, Literatur… bloß staunend Maulaffenfeil. Man stöhnt „ach“ und „schön“ oder „wie grässlich“, doch vom Sinn der Werke begreift man gerade so viel wie der sprichwörtliche Ochs vorm großen Scheuertor. Denken Sie sich ein Land, wo niemand je von Bibel oder zehn Geboten gehört hat. Den Leutchen dort möchte etwa Goethes „Faust I“ sehr seltsam vorkommen. So seltsam wie den Hiesigen heute „Faust II“ und hunderttausend andere Kunstwerke, die sich beziehen auf antike Mythen, von denen  nur noch ein paar Klugscheißer zu wissen scheinen.

„Es spricht Oberlehrer Doktor Pe…“ spöttelt Walter. Das tut er, wann immer ich das Bildungsbanner hisse, um mit Goethes letzten Worten „mehr Licht“ in die Düsternis der  Ignoranz zu beschwören. Was nötig bleibt, solange Zylinder Turbane und Turbane Zylinder als unerträglich anfeinden, solange Adam sich als Krone der Schöpfung geriert und Eva ihm  brav die Kelche serviert. Natürlich, auf den Blickwinkel kommt es an, sogar innerhalb desselben Kulturkreises: Ist Loveparade oder Oktoberfest lustvoller respektive unanständiger? Ist Buga 2011 in Koblenz ein Bluff mit nix oder ein Einsatz-Treiben mit Royal Flash? Ist das Kopftuch eine Kofferbombe oder die Krawatte ein Unterdrückungsinstrument, sind vielleicht beide bloß Verhüterli? Das alles muss neu bedacht werden, seit die Forschung die Möglichkeit einräumt, dass Goethe auf dem Totenbett nicht „mehr Licht“ meinte, sondern sich im Frankfurter Dialekt seiner Kindheit über die Matratze beschwerte: „mer liecht…“, man liegt hier so schlecht.

Die Welt ist unpraktisch. Mussten unbedingt drei Religionen sich jenen winzigen Flecken Palästina zur Wiege nehmen? Wäre wenigstens Jesus andernorts, idealer Weise in Bayern, geboren worden, man hätte sich Kreuzzüge und andere Raub- und Raufhändel sparen können. Womöglich hätte sogar die „Bild“-Zeitung mal zutreffend getitelt „Mir soan Poabst“, statt das mehrheitlich nichtkatholische Deutschland mit der Ente „Wir sind Papst“ zu erschrecken. Die Kollegen vom Boulevard machen sich´s mit der Religion zu leicht. Mit der Nation übrigens auch: „Die Deutschen sterben aus“ heißt es. Was ein grober Unfug ist. Aussterben setzt eine biologische Spezies voraus. Von einer Spezies der Deutschen wusste freilich nur das NS-Wissenschaftskorps 1933 ff zu fabulieren.

Dass Deutschsein in erster Linie eine Frage des Passes ist, in zweiter eine der Kochtöpfe war,  erst in dritter Linie und mittels Verbreitung des Idioms Hochdeutsch durch den Rundfunk auch eine Frage der Sprache wurde, sollte gerade Mittelrheinern klar sein. Wandern doch seit Jahrtausenden Menschen aller Herren Länder Rhein und Mosel rauf und runter.  Zogen doch seit Urzeiten internationale Heerhaufen übers eifelanische Maifeld. Selbst Blüchers Mannen, die in der Neujahrsnacht 1813/14 in Koblenz über den Rhein setzten, waren keine Deutschen, nicht mal Preußen, sondern russische Schwadrone. Und keineswegs bloß Römer blieben, vieler Völker Samen ist in die mittelrheinischen Stammbäume eingeflossen. Wie soll einer den hiesigen Menschenschlag begreifen, der bloß von Deutschen faselt? Wie soll einer die Menschen hier verstehen, wenn er nicht weiß, dass sie jeden Tag mit dem Gedanken aufwachen, der Himmel könnte ihnen auf den Kopf fallen. Wäre nicht das erste Mal. Muss bloß der Laacher See „Puff“ machen, gleich stecken wir wieder bis sieben Meter über die Halskrause in der Schei…, im Bims.

So viel zum Kontext, zu den Umfeldbedingungen, die kennen muss, wer durchblicken will bei Welt, Kunst, Mensch. Womit wir wieder bei der Überschrift wären und einem alten Lied, das einen noch älteren Bauernaufstand unter der Buntschuh-Fahne lobpreist. Darin heißt es: „Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da Edelmann?“ Die Sache ging übel aus für die Bauern, weshalb das Lied mit dem Vers endet: „Geschlagen ziehen wir nach Haus, die Enkel fechten´s besser aus.“ Ein Irrtum, wie wir feststellen müssen, da nun Adam baggert und Eva spinnt.

Quergedanken Nr. 19

Das war ein Schock, als der Sommer vom heißesten Juli seit Beginn der Wetteraufzeichnung in die kälteste erste Augusthälfte seit Menschengedenken umschlug. Vor wie nach griff das Wetter gehörig ins Leben hinein, und wieder war des einen Lust des andern Plag: Sonnenglück hie, Hitzequal da; angenehme Kühle für diesen, Herbsttristesse für jenen. Man muss von Glück sagen, dass der Homo sapiens das Tageswetter nicht beeinflussen kann. Könnte er´s, zu allen bekannten Kriegsanlässen gesellten sich Mord und Totschlag des Wetters wegen. Kommt noch. Zu negativ? Der Mensch sei klüger? Wäre schön. Doch lässt  die Sache mit dem Klimawandel eher vermuten, dass unsere Spezies dümmer ist, als die galaktische Polizei erlaubt. Anders lässt sich kaum erklären, dass dieses Jahr erneut sämtliche Rekorde globaler CO2-Emission gebrochen werden.

Das Sommerwetter 06 gab jedenfalls Schlagzeilen und Gesprächsstoff in solcher Fülle her,  man hätte damit das postfußballerische Sommerloch auch ohne Krieg in Nahost und daraus folgender Verhedderung der politischen Lager in Deutschland stopfen können. Verhedderung? SPD-Chef und CDU-Verteidigungsminister für deutsche Truppen im Libanon. CSU-Stoiber, SPD-Linke und Linkspartei dagegen. Die Kanzlerin sowohl als auch, die Grünen vielleicht. Und der Papst betet für Frieden. Ähnlich, wenn auch nicht in gleichem Ausmaße verworren, verhielt es sich neulich in Koblenz mit dem Versuch, künftig mehr Beigeordnete an die Stadtspitze zu bestallen. Ausgeheckt hatte den Plan einige (wenige) Polit-Granden der großen Parteien, vom Tisch geputzt wurde er durch eine supergroße Koalition aus anderen Größen derselben Parteien plus Fußvolk, kleineren Gruppierungen und öffentlicher Meinung.

„Rinks und lechts“ waren schon für den großen Dichter Ernst Jandl leicht zu verwechselnde Zwillinge. Und seit die meisten Parteien sich dem Pragmatismus verschrieben haben – will sagen: dem nachlaufenden Reagieren auf alle Lebensbereiche durchwuchernden Kapitalismus –, seither sind politische Grundsätze geschwätzige Leerstellen geworden, gibt es humanistische Werte bloß noch als religiöse und „sozialromantische“ Nostalgie. Da trifft es hart, wenn einer, den man immer für einen aufrechten, aufklärerischen, republikanischen Fels erst im Restaurationssumpf-, dann in der Beliebigkeitsflut gehalten hat, wenn so ein Günter Grass sich plötzlich als Vertuscher für ihn unangenehmer Wahrheit erweist.

Ach Günter, wenn du doch beizeiten geredet hättest wie du jetzt in deiner Autobiografie so schön, so wägend, so zweifelnd, so nachfühlbar und so lebenssaftig schreibst. Nicht, dass der 17-jährige Bub in den letzten Kriegstagen blindbegeistert sich in Hitlers schwarze Bataillone einreihte, schmerzt. Es ist dein dummes  Schweigen über diese Kriegsumstände durch ein ganzes aufmerksames Leben und ein ganzes kluges Lebenswerk hindurch, das einen die Hände ringen lässt. Denn: Jetzt beißen die Hunde wieder, wollen für nichtig erklären jeden kritischen Satz, den der Grass über dies Land und dessen Leute von sich gab. Oskar, die Unke, die Schnecke, die Rättin, Fonti: Ihre Einwürfe verlieren an Gewicht, weil ihr Erfinder vom eitel verfälschten Selbstbild nicht lassen mochte.  

Arm das Land, das Helden braucht – heißt es beim alten Bert Brecht, der jetzt zum 50. Todestag doch noch recht ordentlich zu berechtigten (!) Ehren kam. Diese Einsicht  entschuldigt nicht  das Versteckspiel des Günter Grass. Allerdings stellt sie unsere eigene  Enttäuschung über den Literaturnobelpreisträger unter Vorbehalt. Der Lichtgestalt Schwachheit macht den Fans weiche Knie; mancher wendet sich nun ab vom vorherigen Gegenstand seiner Verehrung. Es fehlt eben noch immer allerhand bis zum Kantschen „Auszug aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“.

„Geht es auch weniger pathetisch?“ Freund Walter zieht die linke Augenbraue weit hinauf in die unwillig gerunzelte Stirn. Ei freilich. Sowieso hätte ich  lieber über die größte Passion älterer Männer gesprochen. Wie Martin Walser in „Angstblüte“ einen 70-Jährigen mit einer 30-Jährigen ins Liebesnest fantasiert. Wie Philip Roth seinen namenlosen Senior im Roman „Jedermann“ an den Unvermeidlichkeiten des alternden Leibes verzweifeln lässt, und im sehnsüchtigen Rückblick den Walser in Sachen Sexappeal deklassiert. Wie Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ seinen jugendlichen Günter nahrungshungrig, kunsthungrig, vor allem aber frauenhungrig durch Deutschland treibt. Drei reife Meister der Sprache erinnern sich in neuen Büchern an Leben und Träume – darin das Weib, das ewig lockende, allfällig die erste Geige spielt. So viel Begehren, noch immer. Nehmt´s als Kompliment, Ihr Damen. 

Quergedanken Nr. 18

Aus, aus, aus! Die Party ist aus! Deutschland ist nicht Fußballweltmeister. Weshalb  Heerscharen schwarz-rot-goldener Landsleute eigentlich  an der Weltlogik oder am eigenen Verstand (ver)zweifeln müssten: Hatten sie den WM-Gewinn durch die deutsche Mannschaft vorab doch zur naturgesetzlichen Selbstverständlichkeit erklärt. Wenn schon zu Selbstzweifeln nicht fähig, so wäre jetzt wenigstens das Eingeständnis vom kollektiven Größenrausch fällig. „Lass gut sein. Ist doch bereits alles Schnee von gestern. Die alte Erde hat uns wieder“, fällt Walter mir brummend in die Parade. Oh nein, mein Freund, mit Schwamm-Drüber und Blick-Nach-Vorn kommen sie mir nicht davon, diese angeblichen Superpatrioten und vermeintlichen Fußballfans! Wenn nirgendwo sonst, hier wird endlich Tacheles geredet!

Im sportlichen Wettstreit gewann die italienische Mannschaft gegen die deutsche. Dem Reglement entsprechend kam „unsere“ Auswahl folglich nicht ins WM-Endspiel. Das hat seine Ordnung. So ist es halt im Sport: Wenn kein Betrug vorliegt, gewinnt der Bessere, der Raffiniertere und/oder der Glücklichere. Was indes trug sich zu in Deutschland am Morgen nach dem verlorenen Halbfinale? Ein gewisses Quantum Volkstrauer hätte man   nachvollziehen können. Dass aber die Hälfte der nationalen Jubelmasse über Nacht einen Großteil ihrer Autofähnchen einfach einzog, war arg. Das Idiom meiner badischen Geburtsheimat benutzt für derartiges Verhalten das jiddische Lehnwort „schofel“ – im Sinne von gemein, ehrlos, anstandslos, ohne Haltung. Ja was sind denn das für Patrioten, die zum Vaterland nur halten, solange es triumphierend auf der Siegerspur marschiert? Was sind denn das für Fans, die sich schnöde abwenden, sobald die eigene Mannschaft nicht mehr erster Sieger werden kann?

Immerhin, es gewann die andere Hälfte des deutschen Publikums seine Fassung wieder und feierte auch noch die Dritte-Platz-Party ausgiebig. Doch wahrer Sportsgeist und echter Patriotismus sollten sich erst beim WM-Endspiel zeigen: Jene Deutschen, die mit italienischen und französischen Freunden und Gästen gemeinsam vor den Leinwänden den Höhepunkt der WM,  das letzte Spiel um den Weltpokal verfolgten, sie sind der eigentliche Stolz der Nation. Sie gratulierten den Gewinnern, blieben herzliche Gastgeber bis zum Schluss, blieben dem Fußball um seiner selbst willen sowie dem Spaß an der Freud treu. Das nenne ich Reife, das ist Größe, so geht Lebensart. Leider aber zählten diese Deutschen am WM-Ende nicht mehr nach Dutzenden Millionen, sondern nur noch nach ein paar Hunderttausend. Weshalb begreiflich ist, dass Herr Klinsmann beizeiten das Weite sucht: Die  Nur-Siege-Zählen-Patriötchen würden ihn umstandslos schlachten, brächte er von der kommenden Europameisterschaft irgendetwas anderes als den Titel mit.

Dies, lieber Walter und verehrte Leser, musste noch klar gestellt werden. Es könnte sonst das Märchen, Deutschland und die Deutschen hätten sich mit der Fußballweltmeisterschaft 2006 völlig neu erfunden, als Legende eingehen ins Kulturerbe, oder sich gar als vorgebliches Faktum in den Geschichtsbüchern festsetzen. Und damit soll´s an dieser Stelle bis auf Weiteres genug sein mit der Fußballeritis. Der Sommer hat noch ein paar Wochen. Wie meist im August könnten es die etwas ruhigeren werden, denn auch viele   Sommerfestivals haben dann, zumindest am Mittelrhein, ausgespielt. Horizonte und Lahneck Live rum, RheinVokal und MMM passé, Rommersdorf-Festspiele vorbei, Brückenfestival und Rosenball in Bad Ems ebenfalls …

So richtig still wird es allerdings auch in der Kulturwelt nie - mögen die Musen sich noch so sehr nach Muße sehnen. Das Koblenzer Gauklerfest steht an und das Pellenzer Open-air; auf der Mayener Burg wird noch zwei Wochen Theater gespielt, auf der Lahnsteiner Burg nachher auch; Rhein in Flammen wird wie üblich gegeben, und auf der Festung Ehrenbreitstein mit „Nabucco“ eine Wiederbelebung der Festungsspiele versucht. Am 3. August tritt in Koblenz ein paranoider Michael Mittermeier in der Rhein-Mosel-Halle gegen René Kollo, Ilja Richter und Co. im „Jedermann“ am Deutschen Eck an. Der ganz normale Wahnsinn eben. Welch ein Glück, dass nicht jeder überall hin muss.

Was nun das wieder für ein Spruch sei, will Walter wissen. Ausgerechnet in einem Journal, das Publikum für Kultur werben soll. Kultur, mein Lieber, ist per se Wahnsinn. Denn sie versucht stets, für Momente eine andere, bessere Welt denkbar werden zu lassen. Das Kulturpublikum weiß, dass solche Augenblicke bloß vorübergehende Illusionen sind. Schlechte Werbung will ihnen dies sichere Empfinden für die Wahrheit austreiben. Gute Werbung verstärkt es.  Woraus allerdings auch folgt, dass gute Werbung nur guten Produkten zuträglich sein kann.

Quergedanken Nr. 17

Haben Sie´s gesehen? Sogar die Bundeskanzlerin außer Rand und Band: den Oberkörper weit nach vorne geworfen; den rechten Arm nach seitlich-hinten verdreht, dabei dem polnischen Premier mit der reflexartig grapschenden Hand beinahe ins Gesicht patschend; ihre Augen quellen schier aus Höhlen; dem zuckend aufgerissenen Mund entringen sich erkennbar Schreie, Quiecker, Stöhner. So ward es vom Fernsehen am 14. Juni dokumentiert – Frau Merkel bereitete derart das 1 : 0 der deutschen Mannschaft gegen die polnische in Dortmund vor. Wir sahen das erstaunliche Bild, hörten dazu leider nur allgemeine Stadionwallung, denn Pressemikrofone sind auf den Ehrentribünen nicht zugelassen (und die Tonaufnahmen der Geheimdienste nicht zu haben).  Was wohl hat Angie geschrieen, gequietscht, gestöhnt? „Mach ihn rein, mach ihn doch rein!“, „komm schon, komm, komm, komm!“, „schieß endlich, schieß jeeetzt!“. Etwas in der Art wird es gewesen sein. Fußball ist halt doch ein sehr  körperbetontes Spiel. Auch für zusehende Pastorentöchter, selbst wenn sie Kanzlerin sind.

Wo schon die sonst so zurückhaltende Regierungschefin sich von König Fußball ganz ungeniert zu öffentlichen Ekstasen mitsamt Lustgeschrei reizen lässt, muss man sich auch über sonstige Erscheinungen der Massenorgie namens WM nicht wundern. Die auffälligste davon ist, dass mit fortschreitender Weltmeisterschaft sich immer mehr gewöhnliche Kraftfahrzeuge in Dienstfahrzeuge verwandeln. Sie zählen mittlerweile nach Hunderttausenden, die mit Stander durch Deutschland kutschierenden Automobile. Stander heißt das Wort, nicht Ständer – wobei das im vorliegenden Fall beim einen oder anderen Zeitgenossen allerdings kaum einen Unterschied machen dürfte. Stander also. Das meint beim Militär und in der hohen Politik kleine Flaggen an offiziellen Autos, Schiffen, manchmal auch gelandeten Flugzeugen oder startenden Zweirädern. Diese Flaggen zeigen dem gemeinen Fußvolk sowie  Protokollbeamten, Wach- und Bedienungspersonal an, dass da eine  Persönlichkeit von Rang mitfährt.

So gesehen erweist sich die Fußball-WM als großer Gleichmacher: Auch Hinz und Kunz fahren jetzt mit Stander. Schwarz-rot-gülden knattert die Fahne im Fahrtwind. Mit Freund Walter würde ich jetzt gerne diskutieren, ob die dieser Tage epidemische Ausbreitung schwarz-rot-goldener Staffagen ein Zeichen für neuen Patriotismus ist oder doch eher modischer Hype eines neuen Party-Accessoires. Aber Walter hat die Mitwirkung an einer weiteren Fußball-Kolumne kategorisch abgelehnt. Begründung: „Über Fußball schwätze ist Blech, gucke ist Gold.“ Also sitzt er Tag um Tag vor der Glotze – und ärgert sich allweil über ufer- und hemmungsloses Vor-, Zwischen- und Nachgesimpel.

Wie ist das nun mit dem neuen Patriotismus? Ich sag mal so: Nationalfarben als Haarschmuck, Gesichtsbemalung und Bodypainting, die Flagge in T-Shirt-Form drüber oder als reizende Wäsche drunter, Narrenkappen, Pappbecher und Kondome in Landesfarben … Heinrich Heines Begriff „teutomanisch“ will dazu nicht recht passen, zumal die Gäste aus aller Welt mit ihren jeweiligen Farben genau den gleichen unpathetisch-verspielten Zinnober veranstalten. So war die WM, zumindest bis zum Achtelfinale, ein im Wortsinne kunterbuntes Völkerfest;  ´ne Party halt. Ob meine Landsleute es auch so meinten, wird sich erweisen: Die Nagelprobe käme mit dem Aussteigen der deutschen Mannschaft aus dem Wettbewerb. Feiern wir als gute Verlierer dann weiter ein Völkerfest, oder wenden wir uns schmollend von der WM ab? Diese Frage die letzten Tage in einige Runden geworfen, ergibt eine verwirrende Stimmungslage. „Wir feiern auf jeden Fall bis zum Abpfiff am 9. Juli durch“, antworten die Einen.  Andere erklären schon die bloße Frage zu grobem Unfug – denn „Deutschland kann nicht ausscheiden, Deutschland wird Weltmeister“. Hhmm, da beschleicht einen dann doch wieder eine gewisse Unruhe: Denn, hallo!, die Rede ist von einem Sportwettbewerb, an dem 32 Teams teilnehmen und 31 NICHT Weltmeister werden.

Wie auch immer: Am 9. Juli ist alles vorbei. Dann kann sich der Deutsche Fußballbund seinem nächsten Etappenziel zuwenden: der Umwandlung der Bundesliga zur T-Com-Liga. Erst gingen die Spielfeldränder an den Markt, dann die Stadionnamen auf den Strich, jetzt folgen die Ligen – und dabei wird´s nicht bleiben. Eines baldigen Tages könnte das Koblenzer Theater nach einer Sektmarke benannt sein, Kölns Wahrzeichen Ford-Dom heißen, das mittelrheinische Weltkulturerbe – wie schon der Nürburgring - abschnittsweise die Namen multinationaler Industriesponsoren annehmen. Dann hieße ein Görres-Gymnasium vielleicht Microsoft-Schule, diese Burg Milka-Ressort und jenes Museum Sony-Center. Schwarz-rot-goldener Putz mag auch dazu hübsch aussehen, für den Gang der wirklichen Geschäfte ist das bunte Volksvergnügen freilich völlig belanglos.  

Quergedanken Nr. 16

Seltsam, dass in einem so sehr dem Sport zugetanen Land wie dem unsrigen Übergewichtigkeit eine Volkskrankheit ist. „Stop!“ schreit Walter: „Keine akademischen Spitzfindigkeiten, die mir doch bloß den Spaß am TuS-Aufstieg und an der WM vermiesen wollen.“ Der sonst so zurückhaltende Freund droht die Contenance zu verlieren. Das kommt von was? Vom Fußball. Diese Sportart verursacht auch bei an sich vernünftigen Zeitgenossen eine Art fiebriger Erregung, unabhängig davon, ob sie im Schweiße ihres Angesichts mitkicken oder das Spiel nur als Zuschauer verfolgen – was bisweilen nicht minder schweißtreibend abgeht.

„Du weißt doch gar nicht, wovon du redest, warst seit 20 Jahren in keinem Stadion mehr“, schimpft Walter. Fußballmuffel sind ihm ein totales Rätsel. Mir geht´s mit eingefleischten, flammenden Fußballfans ähnlich. Womit wir beide ein ziemlich genaues Abbild der Meinungsverteilung im Land sein dürften: die eine Hälfte der Bevölkerung fußballerisch enthusiasmiert, die andere distanziert bis desinteressiert. Das mit den 20 Jahren Stadionabstinenz stimmt: Je älter ich werde, umso mehr befremden mich Massenaufläufe von begeisterungstaumeligen Mitmenschen, sei´s im Sport, beim Pop oder Papst. Was keinesfalls – Nietzsche bewahre – abwertend gemeint ist, nur eben meine Sache nicht (mehr).

In einem Punkt allerdings muss Walter widersprochen werden: Ich weiß schon, wovon ich rede. Mit den Reglement des Fußballs, auch mit dem Finanzgebaren in dieser Großindustrie, ja selbst mit der Geschichte der Sportart bin ich recht ordentlich vertraut (erstes vergleichbares Spiel 3000 vor Chr. in China nachgewiesen; Anfänge des modernen Fußballs im 19. Jahrhundert an englischen Eliteschulen, später Ansteckung deutscher Oberschulen; 1848 Festschreibung der bis heute in Grundzügen noch geltenden „Cambridgeregeln“; 1878 Gründung des ersten deutschen Fußballvereins in Hannover; 1903 die ersten deutschen Meisterschaften).  Ich kann auch ein gutes von einem schlechten Spiel unterscheiden. Und,  Sie werden staunen, ich kann ein gutes Match am Fernseher durchaus mit einigem Genuss gucken.

„Wenn das stimmt“, jetzt wieder Walter, „welches ist dann deine Mannschaft?“ Das war mal, freilich in einem anderen Leben, der SV Waldhof Mannheim. Kennt heute kaum noch jemand. Würde jenes andere Leben noch andauern, könnte das jetzt TuS Koblenz sein. Die beiden Vereine haben manches gemeinsam. Regionale Traditionsclubs beide, endlose Zeiten in der Bedeutungslosigkeit, dann plötzlich der wundergleiche Schuss nach oben. In Mannheim war seinerzeit der legendäre Schlappi, was in Koblenz dieser Tage Sasic ist. Indes währte der Mannheimer Glanz damals ähnlich kurz wie jüngst der Trierer - was um Himmels Willen kein Kassandra-Ruf ´gen Koblenz sein soll.

Der TuS sei der Aufstieg ebenso gegönnt wie den 05ern und der Frankfurter Eintracht der Klassenerhalt. Leid können einem Köln und Kaiserslautern tun.  Walter insistiert: „Schwätz nicht, nenn deine Mannschaft!“ Tja, lieber Freund, die gibt es nicht. Wenn schon Fußball, dann halte ich jeweils zu denen, die besser spielen. Walter tobt: „Oh du elender Opportunist, Speichellecker der Sieger, Bayern-Lakai…“ Moment mal! Seit wann, bitte, wäre im Fußball  besser, schöner und interessanter spielen gleichzusetzen mit gewinnen?

Die andern spielen besser, „aber am Ende gewinnt immer Deutschland“, heißt es in einer der vielen überheblichen WM-Werbungen. Als ginge es bei diesem Weltturnier (neben dem Millionengeschäft) bloß um den Sieg Deutschlands. „Ja worum denn sonst?!“, sagt Walter. Worauf hin mir fassungslos die Kinnlade runter fällt. Tief durchatmen, dann die Gegenposition: Mich interessieren schöne Fußballspiele, spielerisches Können, spielerisch-taktische Raffinesse, sportliche Fairness bei sportiver Einsatzfreude. Mich interessieren weniger Gewinner, und gleich gar nicht interessiert mich, für welche Nation die überbezahlten Wanderarbeiter diverser Vereinsligen dieser Welt während vier WM-Wochen ausnahmsweise antreten. Das treibt nun wiederum Walter, der im „normalen Leben“ gegen National-Gedöhns völlig immun ist, die Maulsperre ins Gesicht.

Schluss mit dem Streit! Jene Hälfte der Leserschaft, die mit Fußball keinen Vertrag hat, haben wir bis hierher schon verloren. Da in dieser Frage eine echte Verständigung ohnehin unmöglich scheint, schlage ich folgenden Kompromiss vor: Fußball kann eine der schönsten Nebensachen der Welt sein und darf von diesem Verrückten so genossen werden, von jenem Verrückten ganz anders. Das mit den zwei Sorten Verrückter gefällt Walter. Gegen die Einstufung „Nebensache“ würde er vielleicht noch opponieren wollen, spräche der warnende Blick seiner derzeitigen Lebensabschnittsgefährtin nicht von wirklichen Hauptsachen - in den kommenden Sommernächten.         

 

Quergedanken Nr. 15

„Bedenke, du bist nur ein Mensch!“ Ausgerechnet beim triumphalen Einzug in die Hauptstadt des Römischen Reiches bekamen die siegreich heimkehrenden Feldherrn in antiker Zeit diese Worte von einem Diener alle paar Minuten eingeflüstert, gewissermaßen hinter die Ohren geschrieben. Die Wirkung der erzieherischen Maßnahme auf die Helden war bekanntlich  begrenzt: In vielen Fällen erwiesen sich erfolgreich geschlagene Schlachten als überaus förderlich für den Karrieresprung zum Imperator oder Gottkaiser.  Dennoch mochte nachher selbst Shakespeare auf den Einflüsterer nicht verzichten:  Der Weise in seinen Spielen ist zumeist ein ärmlicher Narr – bei aller spöttischen Skepsis eine Art Mensch gewordenes Prinzip Hoffnung, das wider besseres Wissen und trotz Samuel Beckett bis heute daran glaubt, dass Godot irgendwann doch noch kommt.

Ruhelos die großmütterliche Nähmaschine traktierend, knurrt Freund Walter: „Worauf willst du eigentlich hinaus?“ Auf den Triumphzug von Kurt Beck selbstredend. Erst absolute Mehrheit hier, dann zzusätzlich Kommando-Übernahme auf dem alten Tanker SPD, und alsbald dürfte er obendrein wohl gegen Frau Bundeskanzler in den Ring steigen respektive sein Gewicht in die Waagschale werfen. „Aha“, so Walter, „und wir sollen nun für Kurt den Mahner spielen; etwa mit dem Spruch: Bedenke, du bist nur ein pfälzischer Elektriker!“ Womit er nichts gegen Pfälzer, geschweige denn gegen Elektriker gesagt haben wolle. Auch nichts gegen Beck, schließlich „kriegt jede Partei den verdienten Vorsitzenden, jedes Land den verdienten Staatslenker.“ Weshalb Walter übrigens jetzt erstmals seit Jahren wieder einen Italienurlaub plant. Nicht wegen der Wahl Becks, sondern wegen der Abwahl Berlusconis; damit es da keine Missverständnisse gibt.

Und die Nähmaschine ruckelt dazu. (??) Freund Walter näht, nein bastelt, sich erstmals im Leben eine rote Fahne. Mit der will er, ebenfalls erstmals im Leben, zur Mai-Demonstration. Allseitiges Kopfschütteln ist ihm darob sicher - denn nie, aber auch niemals war er mit von der Partie gewesen, wenn die Freunde in früheren Jahren wofür oder wogegen auch immer auf die Straßen zogen. Dieser Mensch hatte sich allweil in der Rolle des distanzierten Stoikers oder Zynikers gefallen. Woher jetzt der Sinneswandel? „Ackermann und die Franzosen“ lautete die erste knappe Antwort, als er Stecken, Stab und Stangerl nebst einigen Metern roten Tuches anschleppte. Genaueres folgte im Zuge fortschreitender Bastelarbeit:

„Wenn die Ackermänner im Monat mehr verdienen, als ein fleißiger Facharbeiter im ganzen Leben verdienen könnte, wenn man ihn arbeiten ließe, dann ist was faul im Staate Dänemark. Wenn nun der Ackermänner Fürstensalär auch noch explosionsartig wächst, während zugleich die Entlohnung normaler Arbeit kontinuierlich sinkt, dann ist es Zeit für die Straße.“ Sagt Walter, auf die Geschichte verweisend, die Aufruhr als notwendige Folge herrschaftlicher Völlerei bei gleichzeitiger Hungerleiderei im Volke ausweise. Und dass die Straße einen durchaus wirkungsvollen und wertvollen Beitrag zur Demokratie leisten kann, hätten ja eben die Franzosen bewiesen: „Inakzeptables Gesetz; Schulstreik, Unistreik, Generalstreik; Gesetz perdu. Basta“. Es sei doch schön, wenn ein Volk Traditionen bürgerschaftlicher Renitenz habe und diese gelegentlich auch pflege.
 
So spricht Walter, begutachtet zufrieden seine rote Fahne und macht sich auf die Suche nach der nächstgelegenen 1.-Mai-Demonstration.  Die geht in Koblenz um 10.30 Uhr am Stadttheater ab, läuft um 11 Uhr am Münzplatz ein: zur Ansprache von Andrea Nahles und anderen Frühlings-Lustbarkeiten. Mal schauen, ob dem Freund zusagt, was er dort unter dem Motto „Deine Würde ist unser Maß“ vorfindet.

Apropos Maß. Wann hört Koblenz auf, das Maß der mittelrheinischen Dinge zu sein? Wenn es Kleinstadt geworden ist, meinen ein paar aufgeregte Schängel dieser Tage. Der Fall soll jüngsten Berechnungen zufolge binnen zehn bis zwölf Jahren eintreten. Dann unterschreite die Kommune am Rhein-Mosel-Eck die Marke von 100 000 Einwohnern, wodurch sie den Titel „Großstadt“ verlöre.

Aber bitte, liebe Mitbürger, was gelten uns schon hohle Titel. Wird nicht Ehre viel mehr durch ehrenhaftes Verhalten eingelegt, Autorität durch Fleiß und Kompetenz erworben? Ansehen kommt schließlich auch nicht von Aussehen, sonst säße Heidi Klump im Kanzleramt und nicht Frau Merkel. Und weil das so ist, bleibt uns der Trost, dass Beck und die Amtsinhaberin am Ende ihren Strauß doch irgendwie politisch werden ausfechten müssen. Denn unser Kurt hat zwar Gewicht, aber Schönheit ist dann doch wieder etwas anderes. Mit Koblenz verhält es sich ähnlich: Großstadt oder Kleinstadt – nehmt´s gelassen. Wenn nur ein ordentlicher Charakter drinsteckt, kann uns das offizielle Titularreglement allemal den Buckel runter rutschen.

Quergedanken Nr. 14

Guten Morgen, Tag, Abend „meine Damen und Herrn, unsere Themen heute: Weltmeisterschaft, Weltspitze, Welterbe und - das Wetter“, würde Ulrich Wickert beginnen.  Der Mann hat es einfach. Nicht bloß, weil er bald in Rente gehen darf. Mit seinem Wunsch für „eine geruhsame Nacht“ hat er bis dahin auch stets das letzte Wort, denn der Tag ist dann gelaufen. Wie viel schlechter steht sich da der Kolumnist dieser Monatszeitschrift. Wenn er an seinen Sprüchen herumwürgt, sind es noch Tage hin bis zum Erscheinen des Blattes. Zwischenzeitlich könnte manches passieren; beispielsweise die Welt sich vom Kopf auf die Füße stellen. Nehmen wir die aktuelle Lage: Für den Schreiber wählt Rheinland-Pfalz am 26. März, für Sie, liebe/r Leser/in, hat Rheinland-Pfalz am 26. März gewählt.
 
„Na und“, beschmunzelt Freund Walter mein Dilemma – ignorierend, dass es publizistisch schon einen gehörigen Unterschied macht, ob etwa Michael Hörter (CDU) in Mainz Minister wird oder nicht. Ob Joachim Hofmann-Göttig (SPD) seinen Job als Staatssekretär behält, oder daheim in Koblenz Anspruch auf Beerbung von OB Schulte-Wissermann erhebt. Wird er kaum wollen. Aber Gedanken muss man sich doch machen für den Fall, dass der Wähler wieder Kraut und Rüben, respektive in Rheinland-Pfalz: Reben und Rüben mitsamt diversen Lebensplanungen in den vorderen Parteireihen durcheinander schmeißt. Walter drückt ungerührt die Füße gegen den Heizkörper und summt einen ollen Schlager: „Ob´s nun so oder so oder anders kommt …“

Weil wir gerade von  Hofmann-Göttig sprachen. Der war es ja damals, der die Sache mit dem Weltkulturerbe Mittelrhein ins Rollen brachte. Die entwickelt sich nun etwas ungleichgewichtig, wie sich an Straßenschildern ablesen lässt. Während die linksrheinische A 61 reichlich mit braunen Hinweistafeln auf das Welterbegebiet ausgestattet ist, habe ich an der rechtsrheinischen A 3 noch nie ein solches Schild gesehen. Wie kommt´s? Der Amtsschimmel steckt, ohne zu wiehern, das Maul in den Hafersack – weshalb wir auf freies Philosophieren angewiesen sind.

Amtspersonen sollen, so ist´s Vorschrift, für Dienstfahrten die kürzeste/schnellste inländische Wegstrecke benutzen. Beim Verkehr zwischen Amstpersonen aus Mainz und Koblenz trifft das (von regelmäßigen Ausnahmen abgesehen) auf den linksrheinischen Highway über den Hunsebuckel zu. Wohingegen der rechtsrheinische länger ist, indes nicht immer langsamer,  aber meistenteils über von Wiesbaden regiertes Hochland führt. Das betrachten Mainzer Amtspersonen  fastnachtsnotorisch als (feindliches) Ausland. Folglich geht der Amtsverkehr Mainz-Koblenz über die durchweg inländische A 61, die deshalb volkstümlich auch „Ministrale“ genannt wird. Unser Schluss in der Schilderfrage: Besagte Welterbetafeln gibt es nur dort, wo rheinland-pfälzische Offizielle hin- und herfahren. Endlich wiehert der Amtsschimmel: „Das ist ungerecht und boshaft!“ Natürlich ist das boshaft und ungerecht. Kolumnisten sind so – oder sie sind langweilig.            

Zurück zu Herrn Wickert, der gut reden hat mit seiner „geruhsamen Nacht“. Soll unsereins vielleicht „einen geruhsamen Monat“ wünschen? Das gäbe ein arges Gezeter – jetzt, mitten im Start zum Anfang des Aufschwungs; jetzt, da Deutschland sich auf den Weg gemacht hat, seinen genetisch angestammten Platz an der geistigen, wirtschaftlichen und, selbstredend, sportlichen Spitze der Völkerpyramide wieder einzunehmen. Heiße ich Klinsmann? Lasse sich, wer mag, vom Kaiser abwatschen, von „Bild“ vor den Bundestag zitieren, auf dem Boulevard als Aufschwung-Defätist, Nationalkraft-Zersetzer und Weltmeisterschafts-Saboteur zeihen.

Geruhsamer Monat? Das ging in vorreformatorischen Jahrhunderten noch an, denn damals galt, zumal in langen Wintern, Müßiggang als aller Ehren werte Lebensqualität. Egal, ob der   2006er Winter jemals ein Ende findet: Ich werde mir doch im neuen Tüchtigkeits-Zeitalter  nicht die Finger mit einem Lob des Müßiggangs verbrennen. Jetzt heißt es, Ärmel hochkrempeln, auf dass wir genesen. Man baut hier auf uns, auf Dich – denn Du bist das Weltmeister-Waschmittel, die Weltmeister-Bausparkasse, das Weltmeister-Cola, das Weltmeister-Bier (welches denn nun: Budweiser oder Bitburger?). Du bist Weltmeister-Deutschland! Vergiss das nicht, wenn demnächst die Welt zu Gast bei Freunden ist. Gastfreundschaft meint schließlich: Die, die uns besuchen, haben die Schuhe auszuziehen, die Finger von der Hausfrau zu lassen und sich auch sonst respektvoll gegen die hiesigen Gebräuche zu benehmen. Brauch ist´s: Der Gast mag König sein, aber gewinnen tun wir. Freundschaft!!

Und wie verabschiede ich jetzt die verehrten LeserInnen? Walter beugt sich über den Bildschirm und diktiert mit Samtstimme: „Ihnen einen geruhsamen Monat.“

 

Quergedanken Nr. 13

Die Zeiten sind verwirrend. Liegt das an mir? Hänge ich zu sehr am Vertrauten, am Verlass? Bin ich zu unflexibel? Oder sind am Ende einfach die Zeiten selbst verworren? Mein Freund Walter …, Sie erinnern sich: Der grantelnde Typ, der am Schwerdonnerstag zu verschwinden und am Aschermittwoch wieder aufzutauchen pflegt. Mein Freund Walter also hat sich (nach öffentlich weiters besser nicht beschriebenen bukolischen Eskapaden), dem Sport zugewandt. „Früher“, sagt er, „hättest du stundenlang angestanden, um Karten für ein Fußball-WM-Spiel zu kaufen. Ware gegen Geld. Wenn Ware ausverkauft, dann eben ausverkauft – ein bisschen Frust, finito. Eine reelle Sache. Heute eierst du wochenlang durchs Internet, kriegst trotzdem keine WM-Karte, weil´s angeblich keine mehr gibt. Zugleich aber brüllen dir Gott und die Welt, Lotterie- und Telefongesellschaften, Limonade- und Autohersteller ins Ohr: WM-Tickets zu gewinnen!“ Walter tippt sich mit dem Zeigefinger mehrfach gegen die Stirn.
 
Er hat ja Recht. Es galt einmal die Philosophie, dass, wer es zu einem bescheidenen Auskommen bringen will, anständig arbeiten und vernünftig wirtschaften muss. Der Weg zu Reichtum ist das zwar nicht, wusste schon mein Großvater selig. Aber immerhin konnte auf diese Weise neben dem Nötigen eine Reise nach Italien und bisweilen ein Besuch im Theater oder auch bei Madam Brigittche abfallen. Der alte Herr kannte noch den Unterschied zwischen Sparsamkeit und Geiz: Erstere nämlich zählt zu den Tugenden, wohingegen Letzterer eine ziemlich üble Sünde ist. Erstere schließt Großzügigkeit zur rechten Zeit ein, Letzterer angenehmen zwischenmenschlichen Umgang zumeist aus.

Glauben Sie nicht? Fragen Sie Brigitte, den Großvater oder die Frau Oberin in der Kneipe. Die werden bestätigen, woran es den geilen Geizigen vor allem mangelt: an Lebensfreude, an Sinnlichkeit, an Gelassenheit. Diese Krankheit brachte schon Heinrich Heine gegen seine Landsleute, insbesondere gegen „teutomanischen“ Geisteskinder und preußische Vollstrecker auf. Des Dichters hätte man sich am 17. Februar, seinem 150. Todestag, erinnern können. Verschwitzt? Nachholen! Binnen 30 Minuten haben Sie die kleine Ausstellung über Leben, Werk und Wirkung des schriftstellernden „Staatsfeindes“ in der Koblenzer Stadtbibliothek (Alte Burg) durch. Dann wissen Sie, dass dieser jüdisch-protestantische Atheist, Fürsten- und Knechttumsverächter mit seinem frechen Maul ein schöneres Deutschland besungen hat. Eines, das sich aus aufgeklärtem Geist, weltoffener Kultur und Lebensfreude definiert. Wie pflegt Freund Walter zu sagen: „Stell dir vor wie´s um Deutschland stünde ohne seine Nestbeschmutzer und Vaterlandsverräter!“ Deshalb sei hier ein „Vivat!“ auf unseren Heine nachgetragen – verbunden mit der Hoffnung, Heinrichs Denkart möchte nicht vollends aussterben.

Womit wir wieder in der Gegenwart wären und dabei, dass zum Geiz die Gier gehört. Auf der einen Seite kreischen die Sonderangebote, deren Zahl diejenige normaler Warenangebote inzwischen übersteigt. „Sonder“ ist wie gesagt geil, und „normal“ dem Vernehmen nach blöd. Was kümmert´s, wenn Verbraucherschützer und Warentester alle Jahre wieder vorrechnen, dass die geile Geizigkeit kaum mit Sparsamkeit, aber viel mit Blödheit zu tun hat. Auf der anderen Seite versprechen pestilenzartig sich vermehrende Verlosungsaktionen und Gewinnspiele das baldige Ende der alltäglichen Mühsal für jedermann. Total bekloppt muss sein, wer noch einen Urlaub bezahlt, ein Auto kauft, ein Haus selbst finanziert; deppert alle, die nicht längst ein paar hunderttausend Euro aus Lotteriegewinnen auf dem Konto haben – und sowieso gewonnene WM-Tickets im Sack.

Wer freilich nicht ans Glück glaubt, den sucht es auch nicht heim. Demzufolge kann Koblenz frohgemut in die Zukunft schauen, glaubt doch die Stadtführung fest daran, dass sich am Ende alle Lücken zu aller Zufriedenheit schließen werden – seien es die bei der Buga-Finanzierung oder die auf dem Zentralplatz. Glaube versetzt Berge, scheint die unlängst verkündete Rettung des Lahnsteiner Blues-Festivals beweisen zu wollen. Dazu wieder Walter: „Quatsch Glaube, die Blues-Bürger haben sich einfach auf die Hinterbeine gestellt.“ Also bestimmen nicht Glück und Glaube, sondern eigene Tüchtigkeit über des Menschen Geschick? Da verschluckt sich mein Freund am neuen dunklen Altstadt-Bier einer einschlägigen Koblenzer Haus- und Hofbrauerei. Auf die Hustenattacke folgt der Bescheid: „Für die Fortentwicklung der sozialen Gerechtigkeit wurde die Erfindung der Geschirrspülmaschine zum entscheidenden Hemmschuh. Denn: Sie entzog den Tellerwäschern dieser Erde die Grundlage, über die freie Bahn des Tüchtigen in die Klasse der Millionäre aufzusteigen.“ Sprach´s und ging vor die Tür, um nach dem Frühling Ausschau zu halten.

Quergedanken Nr. 12

Das kann noch keine Frühjahrsmüdigkeit sein, was meinen Freund Walter derzeit so seltsam anwandelt: abwesender Blick, dümmlicher Ausdruck, nichts geht voran, kein Elan, kein Esprit, no Sex. Walter winkt ab – „wird schon wieder“. Es sei jedes Jahr das gleiche: Nach  Freuden nebst Krisen vor und zu Weihnachten, über Silvester und an Neujahr verkriecht sich die Stimmung ins Koma. Januar und erste Februarwochen sind eben, wenn schon kein Jammertal, so doch eine leidlich triste Niederung.
 
Was Wunder, die Neujahrsvorsätze zwicken und zwacken schließlich doppelt. Nicht mehr rauchen ist Qual, wieder rauchen wäre Schmach; Joggen nervt, es zu lassen wäre lächerlich; Treue bringt sehr lange Abende, Untreue brächte wieder Haareraufen nach schlaflosen Nächten… Verloren zwischen den Fronten fühlt sich Walter wie ein falscher Fuffziger – darin der Matschigkeit heutiger Mittelrhein-Winter durchaus ähnlich.

Nun ist Freund Walter eigentlich weder Jammerlappen noch Beckmesser, sondern Frohnatur. Was ihn allerdings nicht automatisch in die Lage versetzt, über bedenkliche Sachverhalte  mit rosaroter Brille einfach hinwegsehen zu können. „Wenn das man gut geht“, brummte er unlängst, als wir an der gigantischen Tag-und-Nacht-Baustelle von Ikea Koblenz vorbei fuhren. Darauf ich: „Wirst sehen, die werden pünktlich fertig.“  Nun wieder er: „Sowieso. Aber was wird mit all dem zusätzlichen Verkehr, der nachher über die B9 rein- und rausrollt?“ Walter hat nichts gegen die Schweden, misstraut jedoch der deutschen Straßenplanung: Er rechnet mit einem neuen Dauerstauzentrum. Und er kichert, wenn Lokaloptimisten schwärmen, das Elch-Kaufhaus brächte neues Publikum auch in die Innenstadt. Walter mag seine Heimat. Eben deshalb macht er sich über dies und das so seine Gedanken, manchmal sogar Sorgen. Weil er dann sein Maul nicht halten kann, wird er bisweilen „Schwarzmaler“ oder „Nestbeschmutzer“ gescholten.   

Für einen Moment vergnügt wurde er, als just Anfang des Jubeljahres zu Wolfgang Amadeus Mozarts 250. Geburtstag mit der Publikation eines uralter Briefes die hierorts stolz geschwenkte Fahne „Mozart besuchte Koblenz“ in etwas realistischeres Licht getaucht wurde. Geschrieben hat den Brief Leopold Mozart, und beklagt werden darin die wenig erbaulichen Umstände einer Rhein-Reise im Jahr 1763. Der Papa des österreichischen Musikgenies lamentiert über „Wasserfatalitäten“, also über hundsmiserabliges Wetter, das ihn mitsamt seinen beiden Wunderkindern Wolfgang und Nannerl auf dem Weg nach Bonn zum Aufenthalt in Koblenz zwingt. Der Zeitzeuge ist lesbar frustriert, denn neben Dauerregen schlägt den Mozarts die Grobschlächtigkeit der hiesigen Hofgesellschaft ebenso aufs Gemüt wie die Verwahrlosung der Stadt. Bei Hofe bestehe „das meiste in Essen und tapfer Trinken“, die Gebäude seien „meistentheils alt, die Kirchen schmutzig und überhaupt sind die Strassen, und alles was in das Auge fällt nicht sauber gehalten“. Bleibt als kleiner Trost für darob gekränkte Lokalpatrioten: Leopolds Urteil über den misslichen Zustand der Aristokratie, der Gebäude und Wege in Koblenz war ebenso auf Mainz gemünzt.

Ist´s  Nestbeschmutzung, wenn jemand heute das historische Dokument abdruckt? Oder ist schon unerhört, dass Leopold Mozart beschrieb, was er hier sah und erlebte? Walter würde sagen: „Paperlapap Nestbeschmutzung – das Nest war halt schmutzig.“ Nachher würde er über den Zirkus im Mozart-Jahr  knurren, wie er schon über den Zirkus im vergangenen Schiller-Jahr geknurrt hat: „Hinhören und nachdenken muss man, nicht die Burschen anbeten und ihre Werke wie Reliquien verherrlichen oder verhökern.“ Derart könnte sich mein Freund allmählich in Rage reden. Könnte – schriebe man nicht Ende Januar, wäre der Himmel überm Mittelrhein nicht so grau und hätte Walter nicht seine Jahresanfangs-Tage. Hat er aber, und winkt deshalb müde ab.

Weil indes dieser Mensch nicht der einzige mit Winterdepression ist, hat der liebe Gott erlaubt, dass nördlich der Lahn-Mosel-Linie der Karneval und südlich davon die Fastnacht erfunden werde. Oder war´s umgekehrt? Nicht-Narren sollten vor Beginn der heißen Sessionsphase noch mal nachschlagen, denn das falsche Wort kann einen in Mainz mächtig in die Bredouille bringen. Kölsche Jecke sind dem Vernehmen nach da etwas laxer. Und bei uns hier daheim, also gewissermaßen im Grenzland zwischen Karnevals-Republik und Fastnachts-Reich? Schnurzpiepegal! Wir nehmen von allem das Beste und feiern zur Not alle beiden Feste. Walter nickt wohlwollend: „Macht das man.“  Dann wird er wie jedes Jahr am Schwerdonnerstag untertauchen – um am Aschermittwoch endlich wieder quietschvergnügt und nun voll der Frühlingsgefühle auf der Matte zu stehen.  

Quergedanken Nr. 11

Stell dir vor, du wärest am Weihnachtsabend in friedvollster Stimmung spazieren gegangen. Hättest jene knappen Stunden genossen, in denen ein Mal pro Jahr selbst so lebhafte Städte wie Koblenz oder Mayen, Neuwied oder Bad Ems zu relativer Ruhe kommen und einen Moment durchatmen. Kaum Verkehr, kaum Leute, kaum Lärmschmutz – der große Menschenhaufen hat sich verlaufen und zu familiärer Feier niedergelassen. Der Augenblick  ist kurz, noch am selben Abend wird das allfällige Rumoren wieder anheben. Mittenmang greifen dir plötzlich zwei  Herren in ausgebeulten Jacketts unter die Arme, helfen nachdrücklich erst in eine noble Limousine, hernach in ein, zwei, drei sehr private Flugzeuge. Du landest hier und dort, vielleicht in Rumänien, Afghanistan, Ägypten. Genau weißt du´s  nicht, denn es ist Nacht – draußen in der Welt, mag auch sein nur drinnen in deinem mittlerweile windelweich geprügelten Hirn.
 
Räuberpistole? Albtraum? I wo, nur der All-Inklusiv-Service beim Traditionsclub CIA. Ist das geilste aller Schnäppchen. In den Genuss kamen früher nur Asiaten, Süd- und Mittelamerikaner sowie ein paar Afrikaner. Heute kriegste es auch als Deutscher, gar ohne Buchung und für umme. Stop! Also ehrlich! Da vergehen einem doch Weihnachtserinnerung, Silvesterlaune, Fastnachtsvorfreude und WM-Stimmung auf einen Schlag. Da beginnt man zu begreifen, was der Volksmund meint, wenn er von Feinden spricht, die keiner braucht, solange er Freunde hat. Solche wie George und Condie. Die wissen noch, was Freiheit im Texas-Stil meint: Schnell ziehen, kräftig hinlangen, später diskutieren oder gar nicht. Das imponiert – in Berlin, Pullach und anderen hiesigen Zentralen für 00-Agenten. Was auch würde deutsches Piepsen gegen Helden helfen, die auf Hurrikan-Opfer ebenso entschlossen herabsehen wie auf die Klimasorgen der Weicheier-Restwelt. God bless America, Mister Bush und den armen King Kong auch!

Sei bloß nicht so schnippisch! Das ewige Lamento über den Klimawandel geht einem sowieso auf den Sa…, die Ei…, halt auf die Nerven, dort wo sie besonders empfindlich sind. Die Vorteile geraten ja ganz aus dem Blick. Zuletzt musste man noch auf einen Glutsommer warten, bis der ebenerdige Fußweg von Vallendar zur Rhein-Insel Niederwerth endlich begehbar war. Inzwischen kommt man auch schon im Herbst quasi per Gummistiefel hinüber. Das hat doch was. Man bedenke die Möglichkeiten: Noch ein Jährchen sowie vielleicht den einen oder anderen Jahrhunderthochwasser-Rückschlag hin, und der leidige Streit um eine Brücke bei St. Goar erledigt sich von selbst. Wo kaum noch Wasser, braucht´s keine Brücke, reicht eine ordentlich dränagierte Dammstraße. Dann im Flussgeröll nach Lörchens Kamm oder dem von Worms her abgelagerten Nibelungengold graben – wenn das keine zugkräftige Strategie zur Welterbevermarktung ist.

Eigentlich könnte man schon jetzt Wirtschaftsnutzen aus dem Klimawandel ziehen: bei der Fußball-Weltmeisterschaft. Bevor auf dem Betze in Kaiserslautern den Gästen aus aller Welt das Dach auf den Kopf bröselt, sollten im Land Alternativen erkundet werden. Die gibt es ja, nun, da Supermodel Bündchen ihren hübschen Popo nachhaltiger verbirgt als der Rhein seine Sand- und Steinblößen. Will sagen: Oberwerth liegt (bei Redaktionsschluss) trocken, das Koblenzer Stadion ist also bespielbar. Für die Begegnung Paraguay gegen Trinidad/Tobago sollte wohl reichen und recht sein, was der TuS billig ist. Australien könnte gegen Japan in Trier antreten. Die Ränge wären ordentlich voll, und die Welt könnte etwas noch nie Dagewesenes erleben: WM-Matches in gleich zwei Unesco-Welterbestätten. Die Unwägbarkeiten des pfälzischen Stadionbaus wären umgangen, Rheinland-Pfalz dürfte weiter WM-Stolz tragen und obendrein für sich in Anspruch nehmen, modernen Fußball in den welthistorischen Adelsstand erhoben zu haben. Fehlt noch was? Wohin mit Italien gegen USA? Ab nach Frankfurt damit – man sollte die Möglichkeiten am Mainzer Bruchweg schließlich nicht vollends überstrapazieren.

„Du bist schon ein arger Miesmacher“ schimpfen sogar Freunde, die auf ein großes munteres Multikulti-Fußballfest hoffen. Dieser Vorwurf geltet jetzt aber nicht. Will ich es doch auch, so ein Fest – nebst Großleinwand-Happenings am Deutschen Eck, am Lahneck oder wo sonst sich fröhliche Sportsfreunde und –innen zusammenfinden. Frisch und frei nach der alten olympischen Devise: Mögen die besten Sportler gewinnen. Autsch, mein Schienbein! Offenbar das falsche Motto. „Deutschland muss, Deutschland wird den Titel holen!“ Habe ich auch nichts dagegen, sofern Klinsis Mannen besser spielen als alle andern. Autsch! Offenbar wieder die falsche Sichtweise. „Spielen hin oder her, Hauptsache Deutschland siegt!“  - - - Tief verwirrt zieht sich daraufhin der Sportsgeist zum Meditieren zurück.

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